Aufgrund der herzlichen Pflege und der umfassenden Medikation im Sterbehaus bäumte sich Holgers Lebenswille ein wenig auf. Der nahende Frühling bewirkte, dass Holger oftmals am Fenster sitzen wollte, um die knospenden Pflanzen zu beobachten.
Das Unfassbare trat ein. Holger nahm wieder normale Nahrung zu sich. Wirkte kräftiger und begann leichtes Interesse für die Umwelt zu zeigen. Bei meinen Besuchen willigte er immer häufiger ein, wenn die Sonne schien, ein wenig im Hospizgarten spazieren zu gehen. Bloß auf die Straße, in die Öffentlichkeit wollte er auf gar keinen Fall.
›Meinst du, ich will, dass mir alle Leute hinterher starren wie einem Gespenst – selbst wenn ich so aussehe? Kommt ja überhaupt nicht in die Tüte.‹
Zu Hause haderte man mit dem Schicksal, denn jeden Monat erhielt das Pflegeheim einen erheblichen Batzen von Holgers Vermögen als Pflegekosten. Holger war weder krankenversichert, noch sonst etwas in der Art. Er glaubte nun mal nicht an die Zukunft. Das zehrte bitter an den Rücklagen. Nicht mehr lang, und das Erbe wäre vertan. Man zeigte sich rasend vor Wut, besonders Reinhold Lenz. Wenn ich Holger davon berichtete, lebte er förmlich auf.
Wenn wir nicht im Garten spazieren gingen, erzählte mir Holger von früher oder wir pokerten. Holger spielte begeistert Poker. Früher habe er allerdings ausnahmslos Strip-Poker mit seinen Jungs gespielt, berichtete er mir mit lüsternem Augenaufschlag. Wenn er gewonnen hatte, mussten die Jungs einen Teil der Kleidung ablegen. Wenn er verlor, zahlte er einen Betrag in den Jackpot, den die Jungs sich hinterher teilen durften. Ab und zu schilderte er seine diesbezüglichen Erinnerungen, und obwohl mir dabei ein wenig unappetitlich zumute war, ließ ich Holger erzählen. Die Erinnerung schien ihn aufzubauen. Wir spielten natürlich nicht um Geld, sondern um geröstete Sonnenblumenkerne – Holgers Lieblingsnascherei.
An jenem Tag im Juni 1986 pokerten wir im Garten unter den ausladenden Ästen des Kirschbaums.
›Ich habe gerade ein Blatt auf der Hand‹, lachte er, ›das hat mir mal drei wunderbare Nächte beschert. Mit einem Bengel wie aus dem Bilderbuch. Ich setze alles und ziehe dir die Hosen aus.‹
›Das könnte dir wohl so passen, was?‹
Holger schmatzte und ich überlegte unvermittelt, ob sich bei ihm eigentlich in der Beziehung noch irgendetwas tat. Ihn zu fragen traute ich mich nicht. Holger schmatzte erneut.
›Eine gute Idee, lass uns doch mal darum spielen. Schon ewig lang keinen hübschen Arsch mehr in den Händen gehabt.‹
Ich tippte mir an die Stirn. ›Vergiss es einfach. Arschlecken, Rasieren, Dreifuffzig, aber nicht mit mir.‹
Holger lehnte sich zurück. ›Seit Kurzem hast du einen Ton am Leib wie ein Landsknecht.‹
Ich schaute ihn an und musste unwillkürlich schmunzeln. ›Werde ich ja bald sein.‹
Holger legte die Karten verdeckt auf den Tisch. ›Was wirst du bald sein?‹
›Soldat. Dauert nur noch ein Vierteljahr. Anfang Oktober geht es los. Ich habe mich freiwillig gemeldet.‹
›Du hast dich freiwillig zu denen ... in Oliv gemeldet?‹ Holger schloss die Augen und wirkte, als müsse er sich selbst zur Ruhe aufrufen. ›Ich fass es nicht.‹
›Wozu regst du dich auf, hin müsste ich sowieso.‹
Holger rieb sich das unrasierte Kinn. ›Militär ist was für Volltrottel. Früher erbte der klügste und tüchtigste Sohn Haus und Hof – der dümmste wurde Offizier. Ich kenne keinen einzigen Uniformierten, der eine Leuchte ist, dafür viele Armleuchter. Mann! Achim, dich habe ich für vernünftig gehalten.‹
›Sieh es mal von meinem Standpunkt aus, Holger. Unsere Väter haben jedem Anführer geglaubt, statt selbst zu denken, haben immer wieder gehorsam Pleite gemacht und begreifen nicht, dass wir sie belächeln. Seit Jahren warte ich darauf, dass ich endlich achtzehn werde und weg kann. Mom ist seit einer Ewigkeit fort – hat mich prima im Stich gelassen mit dem . Ich will auch nur weg. Aber wohin? Wo finde ich Ruhe, mir zu überlegen, was ich tun möchte? Beim Bund, habe ich mir gedacht. Dort habe ich Zeit, mir etwas einfallen zu lassen. Den Führerschein kann ich da kostenlos machen und vielleicht sogar einen Beruf erlernen. Auf jeden Fall kann ich von zu Hause weg und werde versorgt sein. Zusätzlich bekomme ich etwas Geld in die Finger und hinterher eine kleine Abfindung.‹
Holger wirkte nicht überzeugt. ›Wie du meinst. Einen Tipp will ich dir auf jeden Fall mitgeben, Achim. Wenn irgendwer, egal wer, egal wann und egal wo – nicht nur beim Militär – sich einbildet, wichtiger zu sein als du und dir Vorschriften oder Schwierigkeiten machen will, weil er sich für etwas Besseres hält, stell ihn dir in Unterhosen vor. Oder noch besser beim Kacken, da sind wir nämlich alle gleich, Männer und Frauen, Könige und Bettler. Die Vorstellung hat mir stets geholfen, niemanden mehr ernst zu nehmen. Das wird dir ebenso gehen, man muss nämlich automatisch lachen.‹
Die Vorstellung gefiel mir tatsächlich sehr.
›Stimmt, nicht wahr? Wenn ich an die ganzen Bengel denke, die in einer Kaserne herumlaufen. Hach, eigentlich müsste ich dich geradezu beneiden.‹
Unweigerlich überflog mich eine Gänsehaut. ›Macht mich nicht an. Finde ich wirklich nicht im Mindesten erregend.‹
Holger nahm die Karten auf. ›Denkst du noch manchmal an Lauras Mädchen? Ist jetzt fast zwei Jahre her‹, fragte er und schaute mich über die Karten hinweg an.
›Und ob. Das war supergeil. Dafür kann ich mich nur immer wieder bedanken.‹
›Das trifft sich gut. Wie gesagt, ich setze alle Kerne, muss meine verlorenen schließlich zurückhaben. Was denn, du gehst mit? Wirst es nie lernen, ich habe vier Asse. Zahlen, junger Freund!‹ Er rieb Daumen und Zeigefinger aneinander.
Ich legte mein Blatt auf den Tisch. ›Der Pott gehört mir, eine Straße in Herz, ein Royal Flush ist doch wohl mehr als ein lächerlicher Vierer, oder?‹
Ich strich die Kerne auf meinen Vorratshaufen. Holger hatte seinen Einsatz sowieso schon langsam knabbernd verringert.
›Das hat man davon, wenn man kleinen Jungs das Leben zeigt. Das ist also der Dank!‹, schimpfte Holger gespielt beleidigt. ›Frische Luft macht hungrig. Wie wäre es mit einer schönen feinen Pizza?‹
›Kein Problem, lassen wir zweimal Pizza kommen. Hast du diesbezüglich irgendeinen besonderen Wunsch?‹
›Ja, nicht kommen lassen. Ich möchte, dass du mich in die Trattoria an der Ecke der Berliner Straße begleitest. War früher mein Lieblingslokal. Ich möchte noch einmal dort draußen sitzen. Ein Glas Prosecco vorneweg. Dann einen Insalata mista vielleicht. Und meine Lieblingspizza. Pizza con Wurstl .‹
›Was soll denn das sein, Wurstpizza?‹
›Genau, gibt es eigentlich nur in Süditalien. Habe ich in Neapel gegessen. Carlo hat mir das in der Trattoria zubereitet – er kommt aus der Gegend. Pizzateig wie üblich, Tomatensoße mit Knoblauch und Gewürzen al Gusto. Eine feine Bratwurst gut braten und dann in dünne Scheiben schneiden. Carlo hat das immer mit einer Schere gemacht, sonst zerfleddert sie zu leicht. Reibekäse drüber und ab in den Ofen – ein Gedicht, sage ich dir. Dazu ein Glas Taurasi, abgefüllt von Seveso.‹
›Was ist los?‹, fragte ich. ›Mit Dioxin, oder was?‹
›Wieso Dioxin?‹
›Hast Seveso gesagt. Ich habe gelesen, dass dort am 10. Juli vor zehn Jahren eine Dioxinkatastrophe war. Die füllen auch Wein ab? Bäh!‹
›Muss eine Art Aids-Verkalkung sein, ich meine Vesevo, ein Superrotwein aus Avellino zur Pizza. Keine Sorge, ich bezahle. Der Göttlich hat mir heute mein Taschengeld ausgezahlt.‹
Holger hatte in den vergangenen Monaten die Öffentlichkeit partout gemieden. Deshalb wunderte mich sein plötzlicher Wunsch.
›In ein Restaurant?‹, fragte ich nach. ›Habe ich dich richtig verstanden?‹
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