Man kann diese Gefühle nicht verleugnen, jedenfalls nicht, wenn man noch klein ist! Vielleicht war dieser unbändige Wille, das Unrecht aufzudecken, in ihr so tief verankert, dass er sie das alles hatte verkraften lassen. Auch wenn sie oft genug völlig am Boden zerstört und der Gedanke an ihren eigenen Tod eng mit ihr verbunden war, hatte sie dennoch überlebt. Warum, konnte sie nicht sagen oder erklären, sie war heute einfach nur froh darüber. Aber damals konnte sie den Sinn hinter all dem eben nicht begreifen. Wie oft hatte sie sich gefragt, warum sie weiterlaufen sollte, wofür denn? Um sich wieder und wieder verletzten zu lassen?
Abgesehen davon, dass sie ohnehin niemand vermissen würde - außer denen vielleicht, die ständig nach ihr traten, die müssten sich dann wen anders als Ventil für ihre Aggressionen suchen. Erst mit der Geburt ihres Sohnes änderte sich diese Überzeugung zum aller ersten Mal. Sie hatte etwas, für das es sich zu leben lohnte
Ihre Mutter, oder besser Adoptivmutter, hatte ihr schon von klein auf unmissverständlich klar gemacht, dass noch nicht einmal die Frau, die sie geboren hatte, sie hatte haben wollen. Sie würde wohl gewusst haben, warum. Sie sei das Kind einer Nutte und insofern solle sie doch froh sein, dass sie nun hier leben würde. Egal, ob man sie nun schlug oder einsperrte, es ging eben nicht anders mit so einem Kind!
Was ist eine Nutte? Auf jeden Fall war es nichts Gutes und es musste wohl etwas sein, das ganz schlimm war und deswegen musste man sich auch für sie schämen, weil sie halt da war ... Nein, als kleines Mädchen hatte sie mit diesen Worten rein gar nichts anfangen können und es half auch nicht, darüber nachzudenken. Sie war scheinbar etwas unerträgliches, nur weil sie da war.
Noch gut erinnerte sich Nani daran, wie sie in dem großen Flur in einer dunklen Ecke dasaß und auf eine hoch angebrachte Uhr schaute, auf der sie ablesen konnte, wann sie zur Schule gehen musste. Entstanden war das dadurch, dass der Rest der Familie vor ihr das Haus verließ. Alle anderen Türen waren verschlossen, bis auf eine, die Toilette. Und da saß sie nun, ganz alleine und es war kalt. Es war kalt von innen und von außen. Auf der Garderobe stand ein Teller mit zwei Scheiben Brot mit Wurst und zwei mit Marmelade und noch ein Brot in einer Dose, das sie mit zur Schule nehmen sollte, kein Stuhl, keine Decke, einfach nur die Fliesen des Treppenhauses und die Ablage für Schuhe an der Garderobe, auf der sie hockte.
Es waren viel zu viele Brote, sie konnte das alles nicht essen und wenn sie das Brot wieder mit nach Hause gebracht hatte, wurde sie bestraft. In ihrer Not wickelte sie die Brote in Toilettenpapier ein, weil sie ja nichts anderes hatte, um sie dann in der Schule in den Mülleimer zu werfen.
Als es eines Tages an der Tür klingelte, dachte sich Nani nichts Schlimmes dabei. Im Gegenteil, sie freute sich, weil es eine andere Mutter mit ihrer Tochter war. Das bedeutete nämlich, dass sie rauskommen durfte aus ihrer Verbannung, wenn unverhofft Besuch mit Kindern kam. Während sie zusammen spielten, fing sie plötzlich einen Gesprächsfetzen auf.
„Ja, ich wollte nur sagen, dass unserer Tochter erzählt hat, dass Nani immer ihre Brote in den Mülleimer wirft in der Schule.“
„Wie bitte? Die macht was? Wiederholen Sie das noch mal!
„Unsere Tochter erzählt, dass Nani ihr Essen jeden Tag wegschmeißt.“
„Fräulein, komm mal sofort hierhin!“
Schon da zitterten ihre Beine als sie zu ihrer Mutter ging.
„Was machst du? Na warte!“
Völlig überrascht hatte die andere Mutter ihr Kind genommen, noch vor sich hin geredet, also wenn sie das gewusst hätte, was jetzt käme, hätte sie das nicht erzählt und ging. Ja, hätte sie es man nicht erzählt, aber das nützte Nani nun auch nichts mehr. Was jetzt kam, war klar. Zunächst wurde sie heftig verprügelt. Es war ein Beweis dafür, wie undankbar sie war. Offensichtlich stets darauf bedacht, ihre Familie schlecht zu machen! Man unterstellte ihr die Absicht, vorgeben zu wollen, dass man ihr nicht genug zu essen geben würde. Die Konsequenz war, dass sie nun morgens neben ihrer Mutter sitzend die Brote essen musste. Das führte viele Jahre später dazu, dass sie gar nicht mehr frühstückte. Wobei das noch die geringste Folge war, der seelische Kummer lag weit tiefer!
Wenn sie nachmittags draußen spielen durfte, als sie noch kleiner war, durfte sie nicht wieder hinaus, wenn sie hinein kam, um zur Toilette zu gehen. Was also tat sie dann? Sie zögerte es so lange hinaus, bis sie sich in die Hose gemacht hatte. Allerdings war die darauffolgende Weisung ihrer Mutter so erniedrigend, dass sie noch heute, wenn sie daran dachte, nur den Kopf schütteln konnte: Egal, ob fremde Leute im Haus waren oder nicht, sie musste stets nach dem Toilettengang in das Zimmer kommen, vor allen Anwesenden die Hose herunterziehen als Beweis, dass sie nicht eingenässt hatte. Anschließend einen Eimer mit kaltem Wasser als auch Seife holen und sich dann die Hände waschen, weil sie ja sowie sonst nur gelogen hätte. Manchmal fing Nani einen mitleidigen Blick der Anwesenden auf. Aber es half nichts. Es machte die Sache nicht erträglicher für sie. Aber es war ein kleiner Lichtblick, der ihr zeigte, dass nicht nur sie die Situation schrecklich fand.
Überhaupt, sie log ja, wenn sie nur den Mund aufmachte. So war das eben, wenn man sich ein Kind aus fernen Ländern ins Haus holte. So blieb ja nichts anderes übrig, als sie ständig zu schlagen, damit sie mal endlich ein normales Kind werden würde!
„Wo warst du?“ Sie war auf dem Weg von der Schule total in Gedanken gewesen und hatte die Zeit vergessen.
„Ich habe dich gefragt, wo du warst.“
„Nirgendwo.“
„Lüg mich nicht an! Das kann nicht sein, du musst irgendwo noch gewesen sein. Wahrscheinlich bei anderen Leuten und hast dich beklagt, dass es dir so schlecht geht.“
„Nein!“
„Fräulein, ich weiß ganz genau, dass du lügst!“
„Mama, ich lüge nicht.“ Zack, die erste Ohrfeige.
„Was glaubst du, wer du bist? Ich lass mich doch nicht schlecht machen von dir vor anderen Leuten, du durchtriebenes kleines Miststück!“ Und das nächste Mal landete die Hand klatschend auf ihrer Wange. Übergehend in ein heftiges Schütteln: „Wo warst du, habe ich dich gefragt!“
„Ich bin nur nach Hause gegangen.“ schluchzte Nani.
„Nun reicht es mir aber mit dir!“ Und sie wurde zu Boden gerissen und ihr Körper von wahllos ausgeführten Schlägen getroffen.
„Bist du ein verlogenes Kind! Ich will jetzt sofort wissen, was du gemacht hast.“
Irgendwie gab es keinen Ausweg aus dieser Situation, bis Nani anfing, sich irgendetwas einfallen zu lassen.
„Ich bin noch an dem Haus stehen geblieben und hab mir die Blumen angeguckt. Und dann habe ich noch den Hund gesehen und ihn gestreichelt.“
„Mit wem hast du geredet?“
„Mit niemandem.“ Die nächste Ohrfeige traf sie.
„Willst du wohl endlich aufhören zu lügen! Ich bin schon ganz kaputt. Soweit treibst du mich, das ist unglaublich, was man sich von dir alles bieten lassen muss!“
„Ich hab noch den getroffen und wir haben nur kurz geredet.“ Jetzt war sie dabei, sich ernsthaft etwas auszudenken. Sie musste auf die Schnelle etwas erfinden, das stattgefunden haben könnte, was nicht verfänglich war und endlich dieses Theater beenden würde. Ein „ich habe getrödelt und die Zeit vergessen“, galt nicht. Wenn sie dann endlich eine halbwegs plausible Geschichte zusammen gereimt hatte, war deswegen noch lange nicht Schluss. Zumal das Trödeln an sich ja angenehmer war, konnte es doch die ganz sicher auf sie wartende Enge des Raumes mit der verschlossenen Tür noch etwas hinauszögern – es gab also durchaus einen Grund, länger für den Heimweg zu brauchen. Allerdings stellte sich in diesem Augenblick die Frage, ob das wirklich eine so gute Idee gewesen war … wohl eher nicht!
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