Das Wetter war übergegangen in einen leicht stürmischen Dauerregen, der lautstark gegen die Fenster trommelte. Nachdem sie die Glut im Kamin sich selbst überlassen hatte, war sie hinauf ins Obergeschoss gegangen und inspizierte die Zimmer dort. Da sie ihren Schlafraum unten hatten und nur das Arbeitszimmer oben war, betrat sie die beiden zusätzlichen Zimmer nur dann, wenn ihre Söhne sie besuchen kamen. Es würde nicht viel vorzubereiten geben und zufrieden schloss sie die Tür. Morgen würde sie die Betten beziehen und einkaufen fahren. Voller Vorfreude würde sie in den kommenden zwei Tagen sämtliche Vorbereitungen treffen und auch die noch herrschende Ruhe genießen, die dann übers Wochenende nicht da sein würde. Aber das störte sie nicht, es war eine willkommene Abwechslung in ihrem Alltag – mehr noch, sie freute sich sehr darauf!
Die Leute im Dorf kannten sie. Es war so wie immer. Zu dieser Zeit war es ruhig in dem kleinen Laden und es herrschte eine entspannte Atmosphäre, etwas, das Nani sehr zu schätzen wusste.
„Nani, alles klar? Kommen deine Jungs wieder?“
„Ja, danke.“
„Mensch, das ist doch immer wieder schön, wenn man Familie hat, die an einen denkt. Ich freue mich auch immer. Die Kinder werden so schnell groß und leben ihr eigenes Leben.“
„Das sollen sie auch. Aber schön ist es trotzdem, sie mal wieder um mich zu haben. Die Zeit rast nur so an einem vorbei.“
„Wem sagst du das. Gerade, wenn sie soweit weg wohnen wie deine beiden. Obwohl, meine sind auch nicht nah bei. Haben nicht so viel Zeit für unsereins.“
„Man kriegt nicht mehr so viel mit. Sind halt groß und melden sich auch nicht mehr wegen jeder Kleinigkeit. Aber wenn wir uns sehen, ist es dann auch richtig schön, das musst du dann auch genießen.“
„So sieht es aus. Solange sie so kommen und auch dann, wenn sie ernsthaft Probleme haben, hast du alles richtig gemacht, oder?“
„Ja, das stimmt wohl.“
„Na dann, viel Spaß euch und alles Gute.“
„Ebenso und Danke, werden wir haben!“
Zufrieden lud sie die Einkäufe in ihr Auto und es wunderte sie nicht, dass man logischerweise aufgrund der großen Mengen darauf hatte schließen können, dass ihre Söhne sich angekündigt hatten.
So war es eben, auf dem Lande. Jeder wusste sofort, was der andere tat, selbst dann, wenn man mehr einkaufte als gewöhnlich. Auch wenn sie innerlich darüber schmunzeln musste, so störte es sie nicht weiter. Zumal ein solches Gespräch keine negativen Absichten verfolgte, sondern einfach nett gemeint war.
Von Natur aus war Nani immer freundlich und aufgeschlossen. Sie gab aber dennoch nur soviel von sich preis, wie sie glaubte, offenlegen zu müssen, um nicht als unhöflich und verschlossen zu gelten. Früher war das anders gewesen. Da hatte sie viel zu vorschnell Leuten Einblick in ihr Leben gegeben mit dem Erfolg, dass dieses gegen sie verwendet wurde.
Als Einsiedlerin betrachtete sie sich dennoch nicht, im Gegenteil. Auch wenn anderen der Eindruck entstehen mochte, dass Malea und sie eher zurückgezogen lebten. Das, was sie einander schenkten, war das, was sie beide brauchten, um glücklich zu sein. Ihnen fehlte nichts. Und dadurch, dass Nani oft genug öffentlich in Erscheinung trat und von sich und ihrem Leben erzählte, war ihr die Ruhe hier, wo sie sich mit ihrer Liebe zuhause fühlte, umso wichtiger. Es war ein Ausgleich zu dem, was sie beruflich tat. Trotzdem saßen sie beide im Sommer gerne in den kleinen Strandcafés, tranken ihren Tee und genossen es, mit anderen entspannt zu plaudern.
Vor langer Zeit hatte sie sich entschlossen, einen ganz bestimmten Weg zu gehen. Jener, sich hinzusetzen und aus ihrem Leben zu berichten, um andere aufzurütteln und zum Eingreifen motivieren zu können. Denn nur, wenn sie darüber offen sprach, hatte sie das Gefühl, in den Herzen derjenigen, die ihr zuhörten, etwas zu hinterlassen. Etwas, das so nachhaltig in ihnen wirken würde, um sich allem Unrecht, das Kindern angetan wurde, entschlossen in den Weg stellen zu können. Allerdings, bei dem wenigen, das sie bei ihren Lesungen oder Vorträgen aus ihrem Leben einfließen ließ, zeichnete sich schon ein solches Entsetzen in den Gesichtern der Leute ab, das sie jedes Mal aufs Neue irritierte. Immer dann fragte sie sich im Stillen, wie fassungslos erst eben diese Menschen reagieren würden, wenn Nani mal richtig in die Tiefe gehen würde …
Aus Angst davor, den erhofften Erfolg aufs Spiel zu setzen oder dass den Menschen der Abend mit ihr als etwas Furchtbares in Erinnerung bleiben würde, sparte sie Näheres lieber aus. Sie wollte nicht das Risiko eingehen, dass sich das eigentliche Ziel ins Gegenteil verkehren würde. Wer einen Abend mit ihr in der Rolle der Autorin verbrachte, der sollte gestärkt da heraus gehen und nicht vor lauter Schrecken in Zukunft erst recht dem Thema „Missbrauch an Kindern“ ausweichen!
Auch wenn sie, ganz tief in ihrem Innern nicht vergessen hatte, wie es gewesen war – damals. Die Erinnerung an das, was sie gefühlt hatte, würde sicher nie komplett vergehen. Dass es ihr nicht mehr den Boden unter den Füßen wegriss wie in all der Zeit, in der sie noch haltlos durch ihr Leben geschlittert war, lag einzig und allein daran, dass sie gelernt hatte, sich über die Grauen ihrer Vergangenheit zu erheben!
Schon als kleines Mädchen hatte man ihr versagt, in Frieden und von Liebe begleitet heranwachsen zu können. Dieser fatale Umstand hatte sie für lange Jahre verfolgt. Indem sie selbst immer wieder versucht hatte, alles möglichst zur Zufriedenheit der anderen zu erledigen. Sie bemühte sich, so zu sein, wie man es von ihr erwartete, ohne ihr jedoch eine wirklich aufrichtige Anerkennung zuteil werden zu lassen. Es war eine unerbittliche Jagd nach Zuspruch gewesen, der stets Enttäuschung gefolgt war. Irgendwann dann hatte sie unter Schmerzen lernen müssen, dass es wenig Sinn machte, dort krampfhaft nach Wärme zu suchen, wo man ihr diese schlichtweg verweigerte!
Ihre Familie – ja, die hatte es gegeben. Nur widerwillig dachte sie an jene Menschen zurück, die sie bei sich aufgenommen hatten und deren Nachnamen sie noch immer trug. Aber dieser Name war das einzige, was sie mit denen noch verband und jemals verbunden hatte.
Ein Mitglied der Familie war sie nie gewesen, nicht vom Herzen her und eines Tages hatte sie es verstanden und sich mühsam davon distanziert – vielleicht der Beginn ihres wirklichen Lebens! Sie war ein Kind der Ferne, aus einem Land, das tausende von Kilometern weit weg war. Man konnte es ihr äußerlich ansehen und somit war sie für jeden offen erkennbar ein „angenommenes Kind“. Ein Kind, das dankbar zu sein hatte darüber, dass ihm das Leben gerettet worden ist und niemand in ihrer Umgebung vergaß, sie vehement daran zu erinnern. Es stand all ihren Fragen als unantastbare Antwort gegenüber, weshalb sie irgendwann begann, sich damit abzufinden.
Was sollte man als kleines Mädchen auch tun, wenn man alleine eingeschlossen dasitzt in einem Raum, der gerade genug Platz für ein Bett und einen kleinen Schreibtisch bot und ansonsten lediglich ein Dachfenster zu bieten hatte. Aus dem die kleine Nani erst im Laufe von Jahren hatte schauen können. Nämlich dann, als sie groß genug geworden war, um auf das Bett zu steigen und durchs Fenster hinunter auf die Straße zu sehen. Ansonsten gab es nichts in diesem Zimmer. Keine Bilder, keine Bücher. Der Tür führte ins angrenzende Badezimmer, damit sie sich jederzeit erleichtern konnte, aber die Tür dann war stets verschlossen. Das Geräusch eines sich drehenden Schlüssels im Schüsselloch war ihr noch für viele Jahre ein Graus gewesen. Insbesondere wenn es nachts geschah. Die Dunkelheit an sich und das darauffolgende schwere Atmen und die große Gestalt, die sich im Finstern vor ihr aufgebaut hatte. Die großen Hände die ihre kleinen Händchen zwangen, etwas Schreckliches zu halten, das sie nicht erfassen konnte – ihr Mund ausgefüllt war von etwas, das sie furchtbar ängstige – sie einfach nicht verstand, was da vor sich ging – der Schrecken über das Geschehen eine Starre mit sich brachte, die lähmte – und sie irgendwann begriff, dass sie einfach stillschweigend ausharren musste. Früher oder später war es vorbei … war es immer. Was blieb war die Angst und die Not, die nicht weichen wollte.
Читать дальше