Mit einer schnellen Handbewegung schleuderte er ihren Kopf zur Seite, stieß sie an und verschwand. Amanda taumelte, doch ich war schnell bei ihr und zog sie an mich. Kaum dass ich bemerkte, wie ihre Augen flatterten, sank sie in sich zusammen und zog mich mit zu Boden.
»Amanda, hey.« Ich strich ihr die Haare aus dem Gesicht und berührte ihre Stirn. Sie war kochend heiß.
»Luca, soll ich einen Arzt rufen?« Melinda war aus dem Café gekommen und schaute besorgt zu uns.
»Kein ... keinen Arzt ... bi.. bitte«, sagte Amanda mit kratziger Stimme und klammerte sich schwach an mich. Vorsichtig öffnete sie die Augen.
»Dann lass mich dich nach Hause bringen«, flüsterte ich.
»Nicht nach Hause ...« Vorsichtig richtete sie sich auf und stützte ihren Kopf. »Bitte, ich muss ... ich muss Abby Bescheid sa...«
Sie lehnte ihren Kopf an meine Brust und ich spürte, wie ihr Körper erneut in sich zusammensackte.
»Was machen wir jetzt?«, wollte Melinda wissen, während ich mit Amanda auf dem Arm vorsichtig aufstand.
»Ich nehme sie mit zu mir nach Hause. Ich kenne sie ... und ihre Eltern. Was schuldet sie dir noch?«
Melinda machte eine abwinkende Handbewegung. »Bring sie einfach nur aus der Kälte raus.«
Ich nickte. »Bis morgen, Melinda.« Sie schenkte mir ein Lächeln und ich steuerte direkt auf ein Taxi zu. Auch wenn ich in einem Haus hier in Mitte wohnte, und deswegen oft zu Fuß zur Arbeit ging, würde ich mit Amanda auf dem Arm zu lange brauchen. Sie musste dringend in ein Bett.
Der Taxifahrer hatte beobachtet, was passiert war, und stellte deswegen keine Fragen. Die Fahrt dauerte nur drei Minuten. Ich bezahlte den Mann und stieg mit Amanda aus, die langsam wieder zu sich kam.
»Es ist alles gut«, flüsterte ich und drückte sie fester an mich. Es war eine Kunst, meinen Schlüsselbund aus der Hosentasche zu bekommen und die Tür aufzuschließen, doch es gelang mir. Mit dem Ellbogen betätigte ich den Knopf des Fahrstuhls, der uns in die vierte Etage brachte.
Kaum dass ich die Wohnungstür aufgeschlossen hatte, legte ich sie auf meine große, weiße Eckcouch, zog ihr die Schuhe von den Füßen und deckte sie zu.
Seufzend betrachtete ich Amanda und musste wieder an den Abend vor fast zwei Jahren denken. In der vergangenen Zeit hatte ich mir oft die Frage gestellt, ob ich in dieser Situation richtig gehandelt hatte. War es schlau gewesen, sie einfach gehen zu lassen, ohne zu wissen, was eigentlich passiert war?
Ich weiß nicht warum, aber an diesem Abend hatte Amanda ein Gefühl bei mir ausgelöst, das ich nicht beschreiben konnte. Ich wollte sie beschützen, auf sie aufpassen und für sie da sein ... wie ein großer Bruder für seine kleine Schwester.
»Was ist dir nur passiert, Amanda?«, fragte ich leise in den Raum hinein und wusste bereits in diesem Moment, dass ich sie nicht mehr aus den Augen lassen würde. Nie wieder.
AMANDA
Panisch schreckte ich auf und wusste im ersten Moment nicht, wo ich mich eigentlich befand und was zuletzt geschehen war. Ich schob die Decke von meinem Körper und sah mich in der fremden Wohnung um. Sie war stilvoll eingerichtet und wirkte verboten teuer. Wo war ich nur?
Plötzlich fiel mein Blick auf den schlafenden jungen Mann neben mir und die Erinnerungen kehrten langsam zurück. Ich hatte im Café gesessen, wo Matt mich aufgespürt hatte. Er hatte mich angeschrien und nach draußen gezogen, bis ... bis Luca eingeschritten war.
Stumm ruhte mein Blick auf ihm. Vor zwei Jahren hatte ich ihn kennengelernt und seitdem nicht mehr gesehen. Luca hatte sich in den letzten Jahren kaum verändert. Vielleicht trug er seine dunklen Haare nun etwas wilder und frecher und seine jungenhaften Gesichtszüge waren durch den Dreitagebart ein bisschen männlicher geworden. Doch sonst hatte er sich nicht verändert. Noch immer umgab ihn diese freundliche, charismatische Ausstrahlung, sein italienischer Charme, wie ich vor zwei Jahren gescherzt hatte.
Vor zwei Jahren ... als ich noch ein Teil der Gemeinschaft war, in der er verkehrte, und nicht der Abschaum Berlins, den man gern versuchte zu ignorieren.
Die Gemeinsamkeiten, die wir damals im Gespräch festgestellt hatten, waren nun durch eine unüberbrückbare Hürde voneinander getrennt worden. Die beiden Menschen, die sich einst gut verstanden hatten, existierten schon lange nicht mehr ... zumindest existierte die Amanda von früher nicht mehr.
Schnell stand ich auf, da ich auf keinen Fall hierbleiben konnte. Auch wenn ich mich nicht besser fühlte und mein Kopf immer noch unerträglich schmerzte, wollte ich so schnell wie möglich von hier verschwinden. Luca durfte nicht erfahren, was aus mir geworden war. Sicher hatten meine Eltern alles dafür getan, zu verheimlichen, dass ich abgehauen war und nun mit meinen asozialen Freunden, wie sie sie genannt hatten, auf der Straße lebte. Meinetwegen musste das auch niemand wissen, Luca schon gar nicht.
Leise nahm ich meine Jacke, die er mir ausgezogen hatte, und meine Schuhe, die neben der Couch standen, und schlich aus dem Wohnzimmer. Im Flur schlüpfte ich in meine Schuhe und wollte gerade die Hand an die Türklinke legen, als jemand das Licht anschaltete. Langsam drehte ich mich um und Luca stand im Türrahmen des Wohnzimmers, die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick durchdringend auf mich gerichtet.
»Ernsthaft, Amanda, du würdest einfach so abhauen, obwohl wir uns zwei Jahre nicht gesehen haben?«
Ich kniff die Lippen fest aufeinander und erwiderte seinen Blick. »Du verstehst es nicht, Luca.«
»Dann erklär es mir und verschwinde nicht einfach.« Er seufzte leise und machte einige Schritte auf mich zu. Vorsichtig legte er seinen Handrücken an meine Stirn. »Du hast immer noch Fieber, ich lasse dich jetzt bestimmt nirgendwo hingehen. Pass auf, ich koche dir jetzt einen Tee und sicher habe ich auch noch irgendwo etwas gegen das Fieber. Und morgen Früh fahre ich dich nach Hause, einverstanden?«
Lucas Blick ruhte auf mir. Auch wenn ich ihn kaum kannte und unsere letzte und einzige Begegnung knapp zwei Jahre her war, war ich mir sicher, dass er ohnehin keinen Widerspruch duldete.
»Hmm«, brummte ich daher nur missmutig, schlüpfte aus den Schuhen und hing meine Jacke an den Haken. Ich folgte ihm in die Küche, wo er sofort das Wasser für den Tee ansetzte und schließlich einem Schrank nach Medizin suchte. Er fand nichts gegen Fieber, aber ein lösliches Pulver, das bei Erkältung helfen sollte, und Husten- und Bronchialtee. Ich trank das Glas mit dem aufgelösten Pulver leer und verzog angewidert das Gesicht. Luca goss in der Zeit den Tee auf und trug mir die Tasse ins Wohnzimmer.
»Luca?«, fragte ich leise und senkte meinen Blick auf meine schmutzigen Socken. Ich fühlte mich fürchterlich. Normalerweise nutzten Abby und ich die Zeit, in der wir für Matt Geld erschnorren sollten, auch dazu, in das nächstgelegene Obdachlosenheim zu gehen und wenigstens einmal am Tag zu duschen und wöchentlich unsere Kleidung zu waschen. Ein kleiner Luxus, den wir uns nicht nehmen ließen ... von niemandem.
»Ja?«
»Kann ich ... kann ich duschen gehen? Ich ... ich fühle mich fürchterlich. Und ... und hast du vielleicht ein paar Sachen für mich?« Unsicher sah ich auf und suchte seine ausdrucksstarken dunklen Augen.
»Natürlich, komm mit.« Zusammen gingen wir die Treppe im hinteren Teil des Wohnzimmers nach oben, die direkt in Lucas Schlafzimmer führte. Er öffnete seinen Kleiderschrank und suchte nach Sachen.
»Das sollte dir eigentlich passen«, sagte er und reichte mir einen Stapel Frauenkleidung und ein Handtuch.
»Will ich wissen, warum du die Sachen hier hast und von wem die sind?« Meine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln.
»Wahrscheinlich nicht«, erwiderte er und lächelte ebenfalls. »Das Bad ist dort.« Er deutete auf die Tür auf der anderen Seite des Bettes.
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