Unsanft schob er mich von sich weg und ich stolperte in Abbys Arme. In meinem Kopf drehte sich alles und ich brauchte einen Moment, um wieder zu mir zu finden.
»Verschwindet! Alle beide!«, brüllte Matt und Abby zog mich schnell weg von ihm.
»Amy, komm«, flüsterte sie und ich folgte ihr wie in Trance. Wir eilten die Treppenstufen nach unten und aus dem Haus heraus. Hätte Abby mich nicht mit sich gezogen, ich hätte keinen Schritt allein gehen können. Mir war schwindlig, schlecht und kalt ... so schrecklich kalt.
»Wir gehen zum Alex, dort gibt es ein kleines, nicht so teures Café. Ich ... ich habe noch ein bisschen Geld, das ich vor Matt versteckt habe.«
»Ich will nicht, dass du dein Geld für mich ausgibst«, flüsterte ich schwach, doch meine beste Freundin schüttelte nur den Kopf. »Du hast es sicher aus einem bestimmten Grund zurückgehalten.«
»Das ist jetzt überhaupt nicht wichtig.« Abby schenkte mir ein besorgtes Lächeln.
Als wir einige Minuten später an dem Café am Alexanderplatz ankamen, brachte Amy mich hinein. Sie schob mich behutsam auf einen bequemen Sessel an der Heizung, drückte mir das Geld in die Hand und bestellte einen Pfefferminztee für mich.
»Du bleibst hier, bis ich dich holen komme, okay? Ich beeile mich.«
»Danke!«
»Nicht dafür«, sagte meine beste Freundin und lächelte sanft. Sie verschwand aus dem Café und kurze Zeit später brachte die Kellnerin mir meinen Tee.
Ich spürte ihren abschätzigen Blick, doch dieser prallte schon lange an mir ab.
»Danke«, flüsterte ich dennoch freundlich, nachdem sie die Tasse abgestellt hatte. Ich wusste genau, was sie dachte, doch offenbar hatte sie zu viel Anstand, es auszusprechen.
Seufzend nahm ich die Tasse in die Hand, um mich zu wärmen. Ich kugelte mich in dem riesigen Sessel zusammen, in der Hoffnung, dass niemand mich bemerken würde.
Doch wieder einmal sollte ich mich täuschen.
LUCA
Wie jeden Abend, wenn ich aus dem Büro kam, holte ich mir in Melindas Café noch einen Kaffee. Es war der Beste in ganz Mitte und ich brauchte ihn, um runterzukommen, so seltsam das klingen mochte.
Nach meinem Architekturstudium in meiner eigentlichen Heimat Italien kam ich nach Berlin, wo ich direkt den Auftrag für einen neuen Bürokomplex bekam. Ein Jahr arbeitete ich als Architekt, bevor ich ein Immobilienbüro gründete. Durch den Abschluss geschickter Deals machte ich mir schnell einen Namen und gehörte mittlerweile zu Berlins erfolgreichsten Jungmillionären.
Meine Eltern, die nach wie vor in Italien lebten, führten ein millionenschweres Modelabel. Auch wenn ich wusste, dass ich es eines Tages erben würde, hatte ich mich nie auf dem Erfolg meiner Familie ausgeruht. So war ich auch nicht erzogen worden. Ich wollte es immer allein schaffen, und das gelang mir.
Ich öffnete die Tür des kleinen Cafés und sah mich kurz um. Einen Moment streifte mein Blick ein junges Mädchen in der Ecke, das zusammengekauert in einem Sessel saß und verloren aus dem Fenster sah. Doch ich schenkte der Situation nicht mehr Bedeutung als nötig.
»Hey.«
»Hey Luca«, begrüßte mich Melinda und bereitete mir, ohne zu fragen, einen großen Kaffee zu. »Du siehst gestresst aus.« Sie sah einen Moment von ihrer Kaffeemaschine nach oben.
»Frag nicht, mein Buchhaltungssystem ist heute komplett zusammengebrochen. Die Mädels aus der Abteilung sind beinahe durchgedreht und ich durfte den Spaß ausbaden.«
Sie lachte leise und reichte mir den Kaffeebecher über den Tresen. Ich gab ihr das Geld und öffnete mir eine Tüte Zucker, die ich mit etwas Milch in den Kaffee gab.
»Und? Habt ihr es wieder hinbekommen?«
»Ja, zehn Minuten vor Feierabend. Eigentlich bräuchte ich nach diesem Tag zehn von deinen wunderbaren Kaffees.«
Melinda schenkte mir ein zufriedenes Lächeln. Sie war hübsch, wenn sie lachte. Und obwohl ich schon seit Jahren hierherkam und sie ungefähr in meinem Alter war, hatte ich sie bisher nie nach einem Date gefragt. Warum eigentlich nic...
Die Tür wurde mit einem lauten Knall aufgeschlagen und alle Augen flogen zu einem großen, trainierten Typen in Springerstiefeln.
»Ist das dein Verständnis von Zusammenhalt?«, brüllte er durch den Laden und ging auf das Mädchen zu, das nach wie vor zusammengerollt in dem Sessel saß. Erschrocken sah sie ihn an, als er sie grob am Arm packte und nach oben zog.
»Ich wusste, dass sie Probleme machen würde«, grummelte Melinda und wollte gerade hinter dem Tresen hervorgehen.
»Lass mich das machen«, sagte ich schnell und Melinda nickte dankbar. Ich ging auf den Typen zu, der gerade dabei war, das Mädchen, das ihm eindeutig unterlegen war, aggressiv aus dem Laden zu schleifen.
»Lass sie los«, sagte ich erstaunlich ruhig, doch er ließ sich nicht von mir beirren.
Das Mädchen blickte mich hilflos an. Ihr schmales, herzförmiges Gesicht war blass, ihre braunen Augen wirkten leer und durch die dunklen Ringe kraftlos. Sie trug eine schwarze, verschlissene Jeans, einen weiten Pulli mit einem Aufdruck und eine ausgeblichene rote College-Jacke. Die langen Strähnen ihres hellbraunen Haares fielen ihr ins Gesicht, als der Typ sie herumwirbelte und aus dem Laden schubste.
»Sie hat noch nicht bezahlt«, rief Melinda mir nach, doch das war gerade meine geringste Sorge. Dieser Typ schien, als wäre er zu allem fähig.
»Ich habe gesagt, du sollst sie loslassen!«, sagte ich etwas lauter und bekam endlich seine Aufmerksamkeit.
»Kümmere dich um deinen eigenen Scheiß, du Spinner«, beleidigte er mich.
Als mich der hilflose Blick des Mädchens traf, durchzog mich ein Gefühl von Vertrautheit. Wo hatte ich sie nur schon einmal gesehen?
»Komm her«, flüsterte ich und streckte ihr die Hand entgegen. Sie wirkte ängstlich und traute sich kaum, einen Schritt auf mich zuzumachen.
»Amanda, mach keinen Fehler«, knurrte der Typ, doch sie reagierte nicht auf ihn. Sie sah mir starr in die Augen und wandte ihren Blick nicht ab.
Ihr Name hallte wieder durch meinen Kopf und löste ebenfalls Vertrautheit aus.
Amanda.
Und plötzlich wusste ich es. Es war der jährliche Dezemberball vor zwei Jahren gewesen, als ich sie kennengelernt hatte.
Amanda Thiel, die Tochter des bekannten Berliner Architekten John Thiel. Wir hatten uns an diesem Abend kurz unterhalten, damals war sie gerade sechzehn Jahre alt gewesen. Obwohl sie zehn Jahre jünger als ich selbst war, hatte an diesem Abend dennoch eine Reife an den Tag gelegt, die mich beeindruckt hatte.
Doch dieses Mädchen, das nun vor mir stand, hatte kaum mehr etwas mit ihr gemeinsam. Sie wirkte kränklich und kraftlos, sie strahlte nicht mehr, ging stattdessen unter wie ein Schatten.
Ich dachte an unsere letzte Begegnung, als sie mir beinahe vor das Auto gelaufen war und mich mit diesem toten Blick angesehen hatte. Das komplette Gegenteil zu dem strahlend schönen und glücklichen Mädchen, von dem ich mich zuvor verabschiedet hatte.
»Amanda, komm her«, sagte ich mit Nachdruck und ging einen Schritt auf sie und den Typen zu. Plötzlich wollte ich noch mehr, dass sie Abstand zwischen sich und diesen Idioten brachte.
Als sie wieder nicht reagierte, löste ich meinen Blick von ihr und sah drohend zu dem Typen, der sich wie ein Pitbull vor ihr aufgebaut hatte.
»Wenn du nicht in den nächsten Sekunden verschwindest und das Mädchen in Ruhe lässt, rufe ich die Polizei.« Meine Stimme war ruhig, ließ aber keinen Widerspruch zu. Einige Sekunden hielt er meinem Blick stand, wandte sich aber schnell ab und packte Amandas Kiefer.
»Ich kann nur für dich hoffen, dass du dich nie wieder in meiner Nähe blicken lässt«, raunte er ihr zu. »Ansonsten bringe ich dich um.«
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