„Oh, ich sehe, sie haben ein Auge für Details! Sie müssen verstehen, in einer Stadt, in der die Bausubstanz im Schnitt über 40 Jahre alt ist, kann man solch ein Gebäude schon mal als Neubau wahrnehmen. Sehen sie sich doch bitte den wunderschönen Ausblick vom großzügigen Balkon an. Ist doch herrlich, oder?“
Die Frau im Businesskostüm gab sich alle Mühe, Tom die Wohnung schmackhaft zu machen und fuhr fort:
„Zwei großzügige Zimmer, ein geschmackvoll eingerichtetes Bad und die hoch funktionelle Küche bilden ein schönes Ensemble, in welchem man sich wirklich wohlfühlen kann. Und das alles für eine mehr als angemessene Miete.“
45 Quadratmeter aufgeteilt auf Flur, Küche, Bad, einen mickrigen Balkon und noch zwei Räume ergaben im Werbe-Neusprech der Maklerin zwei großzügige Zimmer. Zumindest großzügig im Vergleich zur Küche, deren Funktionalität sich augenscheinlich darin erschöpfte, dass man durch einfaches Umdrehen auf der Stelle alle Schränke und Arbeitsplatten erreichen konnte. War die Küchentür geschlossen, konnte man als normal grosser Erwachsener noch nicht mal umfallen. Zumindest bei der Miete hatte Corinna Harttisch, wie die Maklerin hiess, nicht übertrieben. Sie lag fast zehn Prozent unter dem Stadtdurchschnitt.
„Apropos Miete“, hob Tom bedeutungsschwer zu seiner Verhandlung an. „Mit der Formulierung ‚mehr als angemessen‘ haben sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich bin bereit, noch heute den Mietvertrag zu unterschreiben, wenn die Höhe der Miete nur angemessen ist und nicht mehr als das. Sagen wir fünf Prozent weniger und ich garantiere ihnen, dass sie innerhalb von 48 Stunden ihre Provision bekommen. Natürlich auf dem bisherigen Mietpreis basierend. Das ist mehr als fair.“
„Das ist ein sehr großzügiges Angebot“, erwiderte die Maklerin mit einem Lächeln, welches freundlich sein sollte aber eher unsicher wirkte. „Allerdings müssen sie in Betracht ziehen, dass solch eine wunderschöne Wohnung in bester Lage sehr begehrt ist. Einer Minderung des Mietpreises wird mein Klient wohl nicht zustimmen.“
„Wenn diese Wohnung so begehrt ist, warum steht sie dann seit drei Jahren leer?“
„Wie kommen sie denn darauf?“ fragte die Maklerin sichtlich betroffen.
„Nun ja, es gibt das Internet-Archiv, in welchem alle alten Internetseiten gespeichert werden und da kann man schön den alle sechs Monate fallenden Mietpreis verfolgen. Und das seit mehr als drei Jahren, als diese Wohnung das erste Mal von Ihrem Maklerbüro als ‚sofort bezugsfertig‘ angeboten wurde. Ich vermute mal, das geschah nachdem der Vermieter bereits einige Zeit selber versucht hat, die Wohnung zu vermieten. Und das in dieser schnell wachsenden Stadt!“
„Äh, ich muss sagen, auch hier zeigen sie eine besondere Beobachtungsgabe“, entgegnete die Maklerin unsicher. „Solch ein Angebot muss ich erst mit meinem Klienten besprechen, das geht nicht so einfach.“
Aber sie wollte Tom nicht so einfach von der Angel lassen und fragte mit etwas mehr Sicherheit in der Stimme: „Sie sind also an der Wohnung interessiert?“
„Ja, aber nur zu den Konditionen, die ich eben genannt habe.“
Tom sah demonstrativ auf seine Armbanduhr.
„Entschuldigen sie bitte, aber ich habe noch einen anderen Besichtigungstermin, den ich wahrnehmen möchte“, fuhr er fort. „Sie haben ja meine Nummer und können mich jederzeit anrufen. Ich bedanke mich für die Besichtigung und wünsche ihnen noch einen schönen Tag.“ Tom lächelte kurz ohne zu winken und ging dann zielstrebig auf die Wohnungstür zu.
„Warten sie kurz!“ rief die Maklerin aus.
Tom hielt inne und drehte sich um.
„Okay, sagen wir zwei Prozent weniger Miete und sie bekommen die Wohnung“, sagte die Maklerin.
„Drei Prozent und wir haben einen Deal“, entgegnete Tom mit einem Grinsen.
„Na gut, drei Prozent, abgemacht“, entgegnete die sichtlich genervte Maklerin mit einem unterdrückten Seufzen und hängenden Schultern.
Tom folgte mit seinem Auto der Maklerin zu ihrem Büro, wo er den Mietvertrag unterschrieb und die Schlüssel für die Wohnung erhielt.
Bei der außerordentlich freundlichen Verabschiedung fragte er die Maklerin: „Sagen sie mir ganz ehrlich eins: Was hat sie überzeugt, auf mein Angebot einzugehen? Die Aussicht auf die schnelle Provision oder mein Trick mit dem erfundenen weiteren Besichtigungstermin?“
„Ganz ehrlich?“ antwortete die Maklerin mit einem breiten Grinsen. „Die Kenntnis darüber, dass der Vermieter bereits den Auftrag erteilt hat, ab nächsten Monat die Miete um weitere sieben Prozent zu senken. Einen schönen Tag wünsche ich noch!“
„Mist!“ entfuhr es Tom.
Tom kehrte nach der mehr oder weniger erfolgreichen Unterzeichnung des Mietvertrages zu seiner neuen Wohnung zurück. Er hatte sich nur kurz darüber geärgert, dass sein seit Tagen ausgetüftelter Plan zum Senken des Mietpreises nicht vollständig funktioniert hat. Während der Fahrt kam ihm aber in den Sinn, dass er doch irgendwie billiger aus der Sache herausgekommen war. Deswegen verbuchte er das Anmieten der Wohnung als teilweisen Erfolg.
‚Think positive’, dachte er und bemühte sich zu lächeln, was ihm auch leidlich gelang.
Er hakte die Episode im Geiste ab und konzentrierte sich auf den nächsten Schritt. Er wollte die Zimmer schnell vermessen und der Umzugsfirma, welche seine Möbel zwischengelagert hatte, eine Skizze geben, damit diese seine Möbel einräumen konnten, während er sich um andere Dinge kümmerte.
Als Tom im Stockwerk, in welchem sich seine neue Wohnung befand, aus dem Fahrstuhl steigen wollte, stand ein beeindruckend großer Mann vor ihm. Er trug moderne Arbeitskleidung mit dem riesigen Aufdruck ‚Hausmeister‘ darauf. Das Alter des Mannes war schwer zu schätzen, es lag gefühlt irgendwo zwischen 34 und 54 Jahren. Tom hätte auch 29 und 65 Jahre akzeptiert, da das Alter eben schwer zu schätzen war. Der Mann hatte ein freundliches bart- und brillenloses Gesicht, war von schlanker Statur und hatte sorgfältig kurzgeschnittenes, hellbraunes Haar.
„Oh! Hallo!“ begrüßte Tom den Mann leicht überrascht.
Der Mann lächelte freundlich.
„Guten Tag! Sie müssen der neue Mieter aus Nummer 21 sein“, sagte er. „Herzlich willkommen in ihrem neuen Zuhause! Ich bin der Hausmeister.“
„Vielen Dank! Das hat sich ja schnell herumgesprochen. Ich habe doch gerade erst den Mietvertrag unterschrieben. Wie haben sie das so schnell erfahren?“
„Nun ja, ich sah sie vorhin mit der Maklerin zusammen das Haus verlassen. Frau Harttisch hatte dieses Juhu-Vertragsabschluss-Lächeln im Gesicht und jetzt stehen sie hier vor mir.“
„Beeindruckende Kombinationsgabe.“
„Danke!“
Das Licht im fensterlosen Flur flackerte kurz.
„Ups, was ist denn das?“ fragte Tom überrascht und sah zu den Deckenleuchten auf.
„Ein kurzes Flackern der Lampen“, antwortete der Hausmeister ruhig ohne seinen Blick von Tom abzuwenden. „Nichts schlimmes, kommt ab und zu mal vor.“
Plötzlich stand wie aus dem Nichts ein weiterer Mann neben Tom und dem Hausmeister. Abgesehen davon, dass er etwas größer als Tom und etwas kleiner als der Hausmeister war, was somit seine Größe bei der anwesenden Bevölkerung zum Durchschnitt machte, bot er ansonsten ein nicht durchschnittliches Bild. Seine dunkelbraunen Haare waren mit grauen Strähnen durchsetzt und hingen ihm glatt und gepflegt bis auf die Schultern. Er trug einen beigen Trenchcoat offen über einem schwarzen T-Shirt. Die ausgeblichene Jeans wurde von knallroten Hosenträgern gehalten, die farblich überhaupt nicht zu den leuchtend gelben Sportschuhen passten. Der ungewöhnliche Gesamteindruck wurde von einem bart- und faltenlosem Gesicht mit beeindruckend hellblau leuchtenden Augen abgerundet.
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