1 ...6 7 8 10 11 12 ...24 Doch solche kleinen Gemeinheiten brachten mich bei meinem Problem nicht weiter. Ich überlegte, wie ich mich aus dem Syriengeschäft herausziehen konnte, ohne meine Anstellung zu gefährden. Doch mir fiel keine Lösung dazu ein. Ich wusste kaum etwas über die Hintergründe des syrischen Bürgerkrieges, noch über die unterschiedlichen Kräfte, die dort wirkten. Ein paar Tage blieben mir noch, bevor Axel Lange den Businessplan wieder auf dem Tisch haben wollte. Vorher musste ich mit jemand reden, der sich mit den Verhältnissen in diesem Land besser auskannte als ich selbst.
Zuerst dachte ich an Harry. Er war belesen, kannte sich mit Vielem aus und hatte manchmal originelle Ideen. Allerdings war er zu sehr Theoretiker, um mir bei meinem Problem weiterhelfen zu können. Was ich brauchte, war praktischer Rat. Mir fiel ein, dass Frank bei Facebook vor einiger Zeit etwas zu den syrischen Chemiewaffen gepostet hatte. Frank hatte politische Verbindungen, Beziehungen zu Leuten, Hintergrundwissen und Zugang zu Informationen, die der Öffentlichkeit vorenthalten wurden. Von ihm erhoffte ich mir Insidertipps zur Lage in Syrien und zur Rolle von Erkalaat im syrischen Chemiewaffenprogramm. Ich schickte ihm eine Mail mit dem Stichwort Pharmaunternehmen in Syrien mit der Bitte, mich möglichst bald anzurufen.
Die Müdigkeit aus der durchwachten Nacht hatte mich wieder im Griff. Ich gähnte und ging auf Strümpfen auf den Flur, um mir dort einen Kaffee aus dem Automaten zu holen. Zum Glück lief mir gerade niemand über den Weg. Tüsselhover hätte sofort gewusst, was Sache war. Ich kehrte mit dem Becher Kaffee in mein Büro zurück.
Die blaue Mappe legte ich einstweilen beiseite und nahm die Arbeit wieder auf, mit der ich mich schon in der letzten Woche beschäftigt hatte. Es ging dabei um eine Bedarfsstudie für Medikamente zur Therapie von Sexualstörungen. Der weltweite Umsatz von Potenzmitteln stagnierte seit Jahren um die zwei Milliarden Dollar, mit leicht rückläufiger Tendenz. Um den Umsatz wieder anzukurbeln, standen Frauen als neue Zielgruppe im Fokus. Sündermann & Lange erhoffte sich mit neuen Präparaten speziell für Frauen, in diesen Markt stärker vorzustoßen. Allerdings war es den meisten Frauen nicht bewusst, dass mit ihrer Sexualität etwas nicht stimmte. Zuerst musste daher der Therapiebedarf geweckt werden. Das sollte mit einer großen Kampagne geschehen, für die ich hauptverantwortlich war.
Mit dem Gesundheitsbedürfnis der Menschen und ihrem Bestreben nach Glück ließ sich eine Menge Geld verdienen. Um die dreißig Milliarden Euro gab man jedes Jahr in Deutschland für Medikamente aus. Neben der allgemeinen Gesundheit spielte dabei der Begriff des Richtigen Lebens eine immer wichtigere Rolle. Aus diesem Grund erzielten Lifestyle-Medikamente immer höhere Umsätze. Die Menschen wollten beraten werden. Nicht nur wie man gesund, sondern vor allem, wie man richtig lebt.
Zu jedem Thema gab es Experten, die den richtigen Weg wiesen. Ähnlich wie bei der Einführung der Statine zur Senkung der Blutfettwerte, musste man den Betroffenen zuerst klarmachen, dass sie eigentlich krank und daher behandlungsbedürftig waren. „Wir müssen das Wild zuerst ankirren“, hatte Thomas Sündermann in der Projektbesprechung gesagt. So, als wäre er gerade im Wald auf der Pirsch. Als erfolgreicher Unternehmer und Hobbyjäger verstand er sich gleichermaßen gut auf das Auslegen von Ködern für Mensch und Tier.
Zum Start der von mir gestalteten Kampagne sollte in Gesundheits- und Lifestyle-Magazinen eine neue Volkskrankheit namens sexuelle Dysfunktion vorgestellt werden. Solche werbefinanzierten Blättchen lagen jede Woche neu in Apotheken, Arztpraxen und anderen zielgruppenorientierten Orten zur kostenlosen Mitnahme aus. Die Leserinnen würden in dem Heft einen Fragebogen finden, der auf ihre sexuellen Gewohnheiten, Wünsche und Schwierigkeiten einging. Aus der Beantwortung der Fragen ergab sich zwangsläufig, dass die meisten an sexueller Dysfunktion litten. Im gleichen Heft sollten Anzeigen für die medikamentöse Therapie der sexuellen Dysfunktion geschaltet werden. Natürlich mit Präparaten aus dem Hause Sündermann & Lange. Die Medikamente mussten über Monate, wenn nicht jahrelang eingenommen werden, um die versprochene Wirkung zu erzielen. Damit war der Absatz für den Hersteller auf lange Sicht kalkulierbar.
Eine ähnliche Strategie hatte sich vorher schon bei den Blutdrucksenkern und den Blutfettsenkern bewährt. Warum sollten nicht Zielgruppen um das männliche und weibliche Klimakterium für die medikamentöse Therapie der sexuellen Dysfunktion begeistert werden?
Für meine Kampagne hatte ich die Hilfe der Werbeagentur Bongarten & Wohlleben angefordert. Heute früh war ihre Antwort eingetroffen. Die Agentur empfahl, bei dieser Aktion den Schwerpunkt auf Radiowerbung zu setzen und es folgendermaßen begründet: „Radiowerbung eignet sich besonders für Kampagnen, die auf eine direkte Resonanz der Hörer setzen. Das Radiopublikum ist treuer und neigt weniger zum häufigen Umschalten, als das Fernsehpublikum. Darüber hinaus konsumieren Hörer die Radiosendungen häufig in einer Eins-zu-eins-Situation, beispielsweise im Auto auf der Fahrt ins Büro. Sie werden dabei kaum von anderen Einflüssen abgelenkt. Gerade bei sehr emotional besetzten Themen wie der Sexualität ist es von Vorteil, wenn die Werbung auf Menschen trifft, die in diesem Moment mit sich allein sind.“
Das klang vielversprechend. Radiowerbung war zudem billiger als Fernsehspots und in der Programmgestaltung direkt mit den Nachrichtenblöcken verknüpft. Das gab den Werbebotschaften einen Anstrich von Aktualität und objektiver Berichterstattung.
Ich dachte daran, wie ich vergeblich versucht hatte, Erika und später Harry für das Thema Gesundheitsvorsorge zu interessieren. Erika hatte einfach nur abgeblockt. Harry behauptete zudem, diese neuen Erkrankungen wären einfach erfunden, um den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Als ich ihn fragte, ob er sich regelmäßig beim Arzt auf seinen Blutfettspiegel untersuchen ließ und ihn auf die Neueinstufung der Cholesterinwerte aufmerksam machte, hatte er nur gelacht.
„Wissenschaftliche Erkenntnisse, die uns zu einem besseren Leben anleiten sollen, werden uns von sogenannten Experten täglich aufs Neue angepriesen. Man will uns weismachen, ohne diese Experten wären wir verloren. Damit wir das auch glauben, wird unsere angebliche Unmündigkeit pseudowissenschaftlich begründet. Wir sollen uns gefälligst informieren, uns von diesen sogenannten Experten beraten lassen. Nur eins sollen wir nicht, nämlich unseren gesunden Menschenverstand benutzen!“
Ich sagte ihm, dass die Welt heutzutage viel zu kompliziert sei, als sich nur auf den sogenannten gesunden Menschenverstand zu verlassen. Der wäre ohnehin durch Vorurteile, Tabus und mangelnde Sachkenntnis geprägt.
Harry hatte dafür nichts übrig. „Das glaubst du nur, weil du da mitmachst und diesen ganzen Werbefirlefanz verinnerlicht hast. Die zu den Themen verfassten Artikel unterscheiden sich doch kaum von Werbeprospekten. Eine Mischung aus ein paar Fakten, mehr oder weniger geschickt vernetzt mit Werbung für bestimmte Produkte. Es handelt sich nicht um objektive Berichterstattung, sondern schlicht um mit Scheinargumenten versetzte Reklame, die bei uns Gefühle wie Angst oder Hoffnung auslösen soll.“
„Das ist doch völlig überzogen, Harry!“
„Beantworte mir bitte eine Frage, Herbert. Wenn ich dafür bezahle, bekomme ich doch jedes gewünschte wissenschaftliche Gutachten, das meinen Standpunkt bestätigt, oder? Wenn ich dabei viel Geld einsetze, kann ich mir auch honorige Wissenschaftler, Professoren, bekannte Experten für ein gewünschtes Gutachten kaufen. Stimmt doch, oder?“
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