„Chefinspektor“, warf Weininger irgendwann während des Redeschwalls von Rettenbacher ein.
„Wie bitte?“, fragte dieser nach, nicht gewohnt, dass ihm jemand einfach so ins Wort fiel.
„Chefinspektor, ich bin Chefinspektor, Inspektor seit zwölf Jahren nicht mehr.“
„Sei’s, wie es sei, Herr Chefinspektor“, das letzte Wort sagte er betont langsam und gedehnt, „ich werde an geeigneter Stelle kundtun, dass die Art, wie Sie diesen Fall führen und vor allem, wie sie die Sicherheit der Bevölkerung aufs Spiel setzen, nichts mit auch nur halbwegs verantwortungsvollem Handeln zu tun hat. Seien Sie versichert, ich werde meine sämtlichen Verbindungen spielen lassen, um Ihnen so viele Schwierigkeiten wie nur möglich zu bereiten. Sie werden sich noch wundern, mein Lieber.“
„Ich hab’s Ihnen ja schon gesagt“, erwiderte der Chefinspektor, „wenn’s im öffentlichen Interesse gelegen und ermittlungstaktisch möglich ist, werden Sie informiert. Bei den Verhaftungen, die Sie jetzt ansprechen, hat keinerlei Anlass dazu bestanden. Auch wenn Sie mir jetzt mit körperlicher Gewalt drohen, werden Sie von mir nichts anderes hören.“
„Machen Sie nur so weiter, Weininger“, fuhr Rettenbacher fort, „Sie werden schon sehen, wie ich mit Leuten wie Ihnen fertig werde.“
Ohne ein weiteres Wort legte er auf.
Der Chefinspektor überlegte, was mit dem letzten Satz, der sehr selbstsicher geklungen hatte, wohl gemeint war, sah aber keinen Grund zu echter Besorgnis. Natürlich konnte er Sicherheitsdirektor Mattausch gegen ihn aufbringen, aber was konnte der schon wirklich tun, außer ihn ein wenig zu ärgern. Wenn er interne Informationen an Rettenbacher weitergab und dieser von ihnen Gebrauch machte, riskierte er ein Disziplinarverfahren, ebenso bei dienstlichen Anweisungen, die die Ermittlungen gefährdeten oder behinderten. Da bellende Hunde selten beißen und Bürgermeister Rettenbacher im Bellen immer schon ganz groß gewesen war, beschloss Weininger, sich deswegen keine grauen Haare wachsen zu lassen.
Viktor holte am Eingang seinen Dienstausweis hervor und teilte dem Portier mit, dass er polizeiliche Erhebungen führen müsse, worauf er zu Direktor Schirmer geführt wurde. Am Morgen im Polizeikommando hatte er den Chefinspektor überzeugen können, dass es sinnvoll wäre, das Umfeld der beiden Afrikaner noch genauer zu beleuchten. Die darauf folgende Bemerkung Margreiters, ob er vielleicht auch eine Dienstreise in den Kongo vorhabe, hatte zwar an ihm genagt, seit er dessen Einstellung zu den beiden Verdächtigen kannte, nahm er diese Dinge allerdings nicht mehr besonders ernst. Etwas mehr störte ihn da schon, dass er sich bei Weiniger aufgrund der eher gleichgültigen Einwilligung in seinen Vorschlag nicht sicher war, ob er ihn die Nachforschungen aus Überzeugung anstellen ließ oder mit dem Hintergedanken, er werde sich dort schon die Hörner abstoßen, um in Zukunft von solchen Ideen geheilt zu sein. Aber egal, was der Grund auch sein mochte. Am Wichtigsten war ihm, dass er weiter versuchen konnte, der Wahrheit auf die Spur zu kommen.
In solchen Dingen war Viktor immer Idealist gewesen. Mit achtzehn war er für ein Jahr nach Amerika gegangen. Danach hatte er ein Studium angefangen, Rechtswissenschaften, um ein halbes Jahr später dahinter zu kommen, dass ihn im Grunde nur das Strafrecht interessierte. Mit den anderen Fächern, Bürgerliches Recht, Verwaltungsrecht, Wirtschaftsrecht und was es sonst noch gab, hatte er nicht viel anfangen können. Vor allem hatte er sich nie an den Gedanken gewöhnen können, die nächsten Jahre in kaum etwas anderes vertieft zu sein als in dicke Wälzer zu diesen Themen. Auch was das Strafrecht betraf, war es weniger die Theorie gewesen, die Anziehungskraft auf ihn ausgeübt hatte, als vielmehr die praktische Lösung der Fälle vor Ort. Als er noch in die Schule gegangen war, hatte er in Unterrichtsstunden, die ihn langweilten, oft Agatha-Christie-Romane unter dem Bankfach gelesen, fasziniert über den Scharfsinn, mit dem Hercule Poirot auch noch die letzten Geheimnisse eines Falles ans Tageslicht brachte. Aus diesen Gründen war er unmittelbar nach seinem Intermezzo an der Universität zur Polizei gegangen, und zwar von Anfang an mit dem erklärten Ziel, in die Kriminalabteilung zu kommen, was ihm durch seine Hartnäckigkeit, die zwar nichts Aufdringliches, aber etwas sehr Beständiges an sich hatte, nach verhältnismäßig kurzer Zeit auch gelungen war. Seit ein paar Monaten war er jetzt im Team von Chefinspektor Weininger, den er von Beginn weg sehr geschätzt hatte wegen seiner Fähigkeit, das große Ganze in einer Fülle von Details nie aus den Augen zu verlieren. Bei manchen Gelegenheiten hatte er zu erkennen geglaubt, dass umgekehrt auch dem Chefinspektor aufgefallen war, zu welch weitreichenden, oft gar nicht nahe liegenden Schlussfolgerungen Viktor fähig war, und dass seine Einschätzung einer Angelegenheit sehr oft den Tatsachen entsprach. Vielleicht hatte ja auch das eine Rolle gespielt, als er heute seinem Wunsch, im Lager weitere Ermittlungen durchzuführen, entsprochen hatte.
Im Sekretariat Schirmers wurde er diesmal ohne Umschweife in dessen Büro eingelassen.
„Ich hab’ gedacht, ihr habt die Mörder schon gefasst“, bemerkte Schirmer mit leicht ironischem Unterton, „wieso komme ich jetzt zum zweiten Mal zu dieser Ehre?“
„Wir haben zwei Personen, die auf Grund bestimmter Verdachtsmomente vorläufig verhaftet wurden, nicht mehr und nicht weniger“, erwiderte Viktor in formellem Ton, „jetzt ist es notwendig, mehr über den Hintergrund der beiden Verdächtigen in Erfahrung zu bringen. Dazu möchte ich Personen befragen, die hier mit ihm zu tun gehabt haben, aber ich benötige diesmal kein eigenes Vernehmungszimmer.“
„Na gut, wie Sie wollen“, bemerkte Schirmer, „tun Sie, was Sie nicht lassen können. Wenn Sie etwas brauchen, wenden Sie sich einfach an das Wachpersonal, sonst haben Sie freie Hand. Wenn ich allerdings höre, dass Sie Unruhe unter den Lagerinsassen stiften, bekommen Sie Probleme, da können Sie sicher sein.“
„Seh’ ich aus wie ein Unruhestifter?“, fragte Viktor unschuldig.
„Wir haben hier nicht immer ganz einfache Klienten. Auf der Welt gibt es Kriege. Die Flüchtlinge, die nach Österreich kommen, führen manchmal ihre Auseinandersetzungen hier im Lager fort, und oft bedarf es nur eines kleinen Auslösers, um das Pulverfass zum Explodieren zu bringen. Ich bin deshalb von solchen Untersuchungen nicht begeistert.“
Die Sorgen, die Schirmer zum Ausdruck brachte, hatten ihre Ursache in einem konkreten Ereignis, das kurz nach Übernahme des Lagers durch die Firma Humano Serve in allen Zeitungen gestanden war. Dabei waren afrikanische Heiminsassen aus Ruanda, die unterschiedlichen ethnischen Gruppen angehörten, aufeinander losgegangen. Ein junger Mann von gerade siebzehn Jahren war damals ums Leben gekommen. Wegen dieses Vorfalls hatten seinerzeit viele die Entscheidung, die Firma Humano Serve mit der Führung des Lagers zu betrauen, kritisiert. Vor allem wurde die Kompetenz der handelnden Personen, allen voran Geschäftsführer Schirmer, bezweifelt. Mittlerweile hatten sich die Wogen wieder geglättet und Schirmer wollte diesen einigermaßen friedlichen Zustand, der im Lager herrschte, nicht gefährden. Allein durch die Verhaftungen sah er ohnehin schon genug Unheil heraufziehen.
„Sie brauchen keine Angst zu haben, ich werde keinen im Unklaren lassen, dass es lediglich um Auskünfte zu den beiden Verhafteten geht und dass hier im Lager niemand verdächtig ist“, bemerkte Viktor in der Hoffnung, jetzt endlich an die Arbeit gehen zu können.
„Dann ist ja alles gesagt“, kam Schirmer zum Ende, „ich hoffe, Sie bekommen alle Informationen, die Sie benötigen, denn, ehrlich gesagt, kann ich mir gar nicht vorstellen, was hier zu erfahren sein soll. Die Schuldigen haben Sie ja schon gefunden. Was hoffen Sie hier noch zu finden?“
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