„Wie lange bist du schon hier?“, fragte er sie schließlich.
„Seit knapp einer Woche“, antwortete sie.
„Und gibt es eine Möglichkeit, dass du hier bleiben kannst?“ Viktor wusste selbst nicht genau, warum er das fragte.
„Das weiß ich noch nicht“, erwiderte sie ernst, „ich bin vorläufig für die Dauer meines Asylverfahrens hier. Aber wie es ausgeht, weiß ich nicht. Wenn ich kein Asyl bekomme, werde ich irgendwohin abgeschoben.“
„Aber das können sie nicht machen“, sagte Viktor aufgebracht, „wenn du kein Recht auf Asylgewährung hast, wer dann? Man muss dich ja nur ansehen, um zu wissen, was du in deiner Heimat zu erwarten hast.“
„So einfach ist es leider nicht“, erwiderte sie, „Tschetschenien ist nicht irgendein Staat, in dem es Krieg gibt oder bis vor nicht allzu langer Zeit gegeben hat. Die Lage ist viel komplizierter. Auch die Interessen Russlands können eine Rolle spielen. Sicher ist deshalb nichts. Man muss abwarten, wie euer Staat entscheidet. Mein Rechtsberater hier im Lager hat mich sehr genau aufgeklärt. Ich danke ihm, denn er hat sehr offen gesprochen, obwohl ….., wenn ich wirklich zurückgeschickt werde, weiß ich nicht, was ich tue.“
„Keine Angst, du wirst nicht zurück geschickt“, sagte Viktor im vollen Vertrauen darauf, dass in Österreich so eine Entscheidung nicht möglich sein könne, „wir leben in einem Rechtsstaat, du kannst nicht in ein Land abgeschoben werden, in dem dir ungerechtfertigte Verfolgung droht. Wie heißt du eigentlich?“
„Mein Name ist Tamasha, mich nennen aber alle Masha“, sagte sie, „und wie heißt du?“
„Ich heiße Viktor“, antwortete er, „leider muss ich jetzt gehen, denn ich habe hier noch etwas zu tun. Können wir uns wiedersehen?“
„Ja“, sagte sie nur.
„Montagabend, um sechs?“
So etwas wie ‚Vielleicht sehen wir uns einmal wieder?’ war Viktor zu wenig. Er wollte Masha unbedingt wieder treffen.
„Da essen wir gerade zu Abend“, antwortete sie, etwas besorgt, dass er nun aufgeben könnte.
„Na gut, wie wäre es um sieben?“
„Ja, um sieben geht es.“
„Gut, ich warte draußen vor dem Haupteingang auf dich. Auf Wiedersehen.“
Er blickte noch einmal in ihre dunklen Augen. Dann stand er auf, brachte seine Tablett zurück und verließ den Saal in Richtung des Zimmers der Afrikaner. Masha sah ihm nach, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war.
Viktor hatte zwar die Absicht gehabt, sich alle Etagen des Lagers anzusehen, aber da das Frühstück einige Zeit in Anspruch genommen hatte, beschloss er, gleich mit seiner Arbeit zu beginnen. Er versuchte sich zu orientieren, was allerdings gar nicht so einfach war. Der Speisesaal des mächtigen dreistöckigen Gebäudes befand sich zentral gelegen im Erdgeschoß, überhaupt waren in diesem Teil vor allem Gemeinschafts- und Verwaltungseinrichtungen untergebracht. Seit Übernahme des Lagers durch Humano Serve wurden allerdings viele Dienstleistungen, für die es früher eigene Angestellte gab, wie zum Beispiel der Reinigungsdienst und die Wäscherei, von außen zugekauft und die dadurch frei werdenden Räumlichkeiten wiederum zur Unterbringung von Flüchtlingen genutzt. Diese Politik, die zu einer immer dichteren Belegung des Gebäudes geführt hatte, war einer der Kritikpunkte, die vor allem der Bürgermeister immer wieder gegen die jetzige Führung des Lagers vorbrachte. Die Gesellschaft hatte diesen Argumenten auch nur wenig entgegenzusetzen. Es ließ sich nun einmal schwer wegdiskutieren, dass durch das Zusammenpferchen möglichst vieler auf kleinem Raum das Aggressionspotential der Betroffenen stieg, was sich nicht nur auf die Beziehungen untereinander, sondern auch im Verhalten zu Außenstehenden, also der einheimischen Bevölkerung, negativ auswirkte.
Das Zimmer, das Viktor zu finden hoffte, befand sich im zweiten Stock, der ausschließlich für Wohnzwecke genutzt wurde. Nach einigen Minuten des Umherirrens in immer gleich aussehenden Gängen wurde er schließlich von einem der Aufseher, der von den Verhafteten wusste, zum richtigen Raum geführt.
Vor der Tür stehend dachte er noch einmal kurz darüber nach, wie die Sache am besten anzugehen sei und drückte dann die Klinke.
Im Inneren lagen zwei farbige junge Männer auf ihren Betten und unterhielten sich. Am Tisch in der Mitte des Raumes saß ein Vertrauen erweckender älterer Mann, aus dessen Gesicht eine wohl durch manche Schicksalsschläge erworbene abgeklärte Freundlichkeit sprach. Neben ihm las eine etwa gleichaltrige Frau aus einer Zeitung vor, die in unbekannter Schrift verfasst war. Sie hatte brünettes schulterlanges Haar. Die beiden schienen ein Ehepaar zu sein. Als Viktor in den Raum trat, sahen ihn alle mit unverhohlenem Interesse an.
„Guten Morgen“, begann er auf Englisch, als das Schweigen unangenehm zu werden drohte, „ich bin von der Polizei und habe ein paar Fragen über zwei Personen, die bis vor kurzem in diesem Zimmer gewohnt haben. Wer von Ihnen kennt Obike Moury und Rasul Nkoma?“
Die beiden Schwarzen schüttelten reflexartig den Kopf, so dass Viktor nicht sicher war, ob sie die Frage überhaupt verstanden hatten, während der ältere Mann nickte. Viktor ging zu ihm zum Tisch, streckte ihm die Hand entgegen und nannte seinen Namen.
„Wir führen Ermittlungen in einem Mordfall“, erklärte er, „vor zwei Tagen ist hier in Dreistätten ein Mädchen Opfer eines Verbrechens geworden und auf Grund der bisherigen Erhebungen deutet einiges darauf hin, dass die beiden Afrikaner, die bis gestern hier untergebracht waren, etwas mit dem Mord zu tun haben. Deswegen bin ich heute hier. Ich möchte von Personen, die die beiden kennen gelernt haben, etwas über sie erfahren. Bitte sagen Sie mir zunächst, wie Sie heißen und wie lange Sie schon hier sind.“
Viktor nahm einen kleinformatigen Block und einen Bleistift aus der Seitentasche seines Rocks und legte ihn auf den Tisch, um sich Notizen zu machen.
„Mein Name ist Levon Markarian und das ist meine Frau Sona“, sagte der Angesprochene in leidlich gutem Deutsch. Das zu Beginn gezeigte freundliche Lächeln war einem deutlich zurückhaltenderen Gesichtsausdruck gewichen, seit Viktor erwähnt hatte, dass es um den Mord an einem kleinen Mädchen ging. „Wir kommen aus Armenien.“
„Seit wann sind Sie schon hier?“, wiederholte Viktor seine bereits gestellte Frage.
„Seit etwas mehr als einer Woche“, antwortete Levon, „Was haben Sie eben gesagt, Rasul und Obike haben ein kleines Mädchen umgebracht? Das ist unmöglich!“ Es war deutlich sichtbar, dass sich alles in ihm gegen diese Vorstellung wehrte.
„Warum sind Sie so sicher, dass sie es nicht waren? Sie können sie doch noch nicht lange gekannt haben“, erwiderte Viktor verwundert, aber gleichzeitig interessiert.
„Das ist richtig“, gab Levon zu. „Ich habe sie erst hier kennen gelernt, aber manche Menschen muss man nicht lange kennen, um zu wissen, ob sie etwas wert sind. Und bei diesen beiden Afrikanern habe ich das sofort gewusst.“
„Wie meinen Sie das?“, fragte Viktor.
„Die beiden haben in ihrem Leben schon zu viel Schlimmes gesehen“, sprach Levon weiter, „sie wollen damit nichts mehr zu tun haben. Sie haben viel mit mir geredet. Alles, was sie wollten, war die Möglichkeit, ein normales, anständiges Leben zu führen, um das, was sie bisher getan haben …. oder richtiger, wozu sie bisher gezwungen wurden, zu vergessen.“
„Gut, Sie haben mit ihnen gesprochen“, sagte Viktor, „aber man kann nicht immer nur nach dem gehen, was die Menschen einem sagen.“
„Mein lieber Junge“, sagte Levon, und er sagte es auf eine so väterliche Weise, dass Viktor nicht auf die Idee kam, verletzt zu sein, „ich habe in meinem Leben schon viele Menschen kennen gelernt und ich weiß, wem ich vertrauen kann und wem nicht. Ich versichere Ihnen, diesen beiden hätte ich alles anvertraut, was ich besitze. Ich habe schon mehrere hier im Lager kennen gelernt und es sind genug darunter, die keinen Pfifferling wert sind. Aber gerade Obike und Rasul so etwas in die Schuhe zu schieben, ist absurd. Sie waren geradezu besessen vom Gedanken, neu zu beginnen. Sie wollten ihre Chance, die sie hier bekamen, nutzen. Nur davon haben sie gesprochen.“
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