»Dann leben Sie wohl«, murmelt er, steckt sich irgendetwas aus dem Etui in den Mund, füllt erneut den Goldbecher mit dem Cognac, beißt auf das, was er im Mund hat und kippt den Schnaps nach. Der Mann beginnt zu zucken, windet und krümmt sich, die Flasche und der Becher rollen über den Steinboden. Ein wenig Schaum fließt über die verkrampften Lippen. Dann liegt er still, es riecht nach Mandeln. Der erste Mensch, den ich beim Sterben beobachtet habe. Und was jetzt?
Jetzt sitze ich da mit dem Koffer und meinem Versprechen.
In der Schalterhalle hinter mir höre ich plötzlich ein Geräusch. Wenn man mich neben einer Leiche findet, habe ich es ebenfalls hinter mir. Durch die Decke über dem Schalterraum dringen erste Flammen. So leid mir der Mann tut, helfen kann ich ihm nicht mehr. Allenfalls seinen Wunsch erfüllen. Vielleicht.
Und auch dies nur, wenn ich am Leben bleibe. Also raus hier! Ich schiebe die Arme durch die Riemen meines Rucksacks und ziehe ihn auf die Schultern. Dann verstaue ich den Becher und die fast leere Cognacflasche wieder im Koffer und verschließe ihn. Ich befestige den Gurt, nehme den Koffer beim Griff und trete, vorsichtig die Fassade oberhalb des Eingangs abschätzend, mit ein paar großen Schritten auf die König-Johann-Straße.
Ich schaue zum Bankgebäude zurück, welches bereits im ersten Stockwerk gleißend brennt, es erfolgt eine Explosion in der Schalterhalle. Flammen schießen nun aus den Fenstern und der Eingangstür. Anscheinend ist der Brandsatz im Toilettenraum jetzt explodiert und hat weiß der Teufel was in die Luft gejagt. Welch ein Massel!
Weniger für den Mann in der Halle, er ist sowieso tot. Ach du liebe Zeit, die Leute im Tresorraum. Da kommt kein Mensch mehr raus. Vielleicht hätte ich ihnen helfen können? Nein, sicherlich nicht, wenn ich an die warnenden Worte der jungen Bankangestellten denke. Die Hitze nimmt mir den Atem und die Haut glüht.
Ich biege in die Schössergasse, weil dort die Flammen nicht ganz so arg zu wüten scheinen. Erst einmal nach Hause, überlege ich und Ordnung in die Gedanken bringen. Das Gehirn beruhigen. Und dann einen Plan machen.
Zwei Männer in dunklen Ledermänteln mit breiten Hüten kommen mir entgegen. Die Sorte, vor der man sich seit Jahren fürchtet und der man möglichst nicht begegnet. Was jetzt? Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass in der Hektik der Angriffe Kontrollen stattfinden, aber als Jude mit einem Koffer nachts durch die Stadt zu marschieren, muss diesen Männern recht seltsam vorkommen. Verdammt! Verdammt! Zwischen uns liegen bestenfalls zwanzig Meter und nun schnell umzudrehen und wegzulaufen wäre verräterisch. Ich gehe weiter. Am liebsten hätte ich freundlich gegrüßt, wie jemand der nichts zu verbergen hat. Juden grüßen besser nicht, sondern verlassen den Gehsteig und gehen auf der Straße weiter.
Der rechte Mann blickt meinen Stern an, dann mich. Er weist mit dem Daumen hinter sich. »Da geht’s nicht weiter. Rund um den Jüdenhof ist alles im Eimer. Wenn Sie zur Elbe wollen, versuchen Sie es ein paar Straßen weiter, Mann.«
»Aber ich wohne doch da.« Verdammt, warum kann ich nur meine Klappe nicht halten?
»Auch das noch. Na dann, viel Spaß beim Suchen.«
Sie passieren mich, ohne weiteres Interesse an mir zu zeigen. Dass einer von der Gestapo Mann zu mir sagt statt Judenschwein, finde ich unbegreiflich. Bisher war ich alle naselang angehalten worden, musste meine Papiere zeigen und häufig sogar die Taschen leeren. Ich schaue den beiden Männern zunächst sprachlos hinterher und gehe dann einige Schritte weiter. Am Ende der Schössergasse lodern tatsächlich unübersehbar helle Flammen. Also folge ich dem Rat umzukehren. Vielleicht kann ich über die Schlossstraße probieren, nach Hause zu kommen, und dann nichts wie runter von der Straße.
Jetzt irgendjemandem zu begegnen, der sich womöglich für den Inhalt des Koffers interessiert, möchte ich nicht riskieren. Bloß mein Glück nicht überstrapazieren. Ewig wird das nicht gut gehen, befürchte ich, denn mein Judenstern ist das Problem. Ohne Stern wäre ich zweifellos in erster Linie ein ganz normaler Mensch. Da hat Kurt Anders wirklich recht. Ich erreiche das Café an der Ecke zum Altmarkt und will gerade in die Schlossstraße einbiegen. Wenige Schritte vor mir reden zwei SS-Leute mit einer Frau, die ein Kind an der Hand führt. Ein großer Koffer steht neben ihr am Boden. Es sieht zwar so aus, als würden die Männer der Frau einen Weg erklären, aber die Angst der Frau kann ich bis zu mir herüber deutlich spüren. Was finden die Kerle nur an ihrer furchterregenden Wirkung? Ich zucke zurück. Ich hätte es nicht berufen sollen. Die SS bewegt sich in meine Richtung und ich spüre bis unter die Haut, mich werden die kontrollieren , ob hier alles zerstört ist oder nicht. Neben mir die Fensterscheiben des Cafés sind unversehrt, dafür ist das Glas der Tür zerbrochen. Als Jude dürfte ich diesen Raum nicht betreten. Habe ich denn jetzt irgendeine Wahl? Ich steige durch den Türrahmen, den Koffer längs vor dem Bauch haltend. Nach wenigen beherzten Schritten habe ich die Theke erreicht und nehme hinter ihr Deckung.
»Sollen wir mal nachsehen, ob es hier was zu futtern gibt?«, höre ich eine männliche Stimme.
»Nee, lass man«, antwortet eine zweite. Die Schritte entfernen sich. Durch ein Fenster scheint das helle Licht der Brände. Niemand ist zu entdecken. Gott sei Dank.
Auf dem Koffer hockend ruhe ich mich eine Weile aus. Hinter der Theke ist es angenehm dunkel. Von draußen würde man mich kaum bemerken können. Ich höre nichts weiter als den Gesang der brennenden Stadt. Gespenstisch. Urplötzlich duftet es ulkigerweise nach Kuchen. Mein Magen knurrt sofort. Wieso Kuchen? In der Küche war doch kein Mensch gewesen. Wahrscheinlich werde ich nun verrückt. Vorsichtig hebe ich den Kopf über den Thekenrand und blicke in die Augen eines interessiert wirkenden Mannes. Den beinahe kreisrunden Kopf hält er leicht zur Seite geneigt.
Ich stelle mich auf die Beine. Was sagt man in solch einer Situation? Keine Ahnung. Also schweige ich lieber. Die gedrungene Korpulenz des Mannes lässt auf kalorienreiche Ernährung schließen. Wird sich wohl um den Bäcker oder Konditor dieses Cafés handeln. Sein Blick fällt auf meinen Stern.
Mit einem Heben des Kopfes atmet er hörbar durch die Nase aus. Dann greift er mit Daumen und Zeigefinger an die Nase und atmet noch hörbarer wieder ein.
»Ach so is dett.«
Wieso klingen manche Dialekte spontan sympathisch? Ich senke den Kopf. »Entschuldigen Sie bitte, ich verschwinde schon.« Ich hebe den Koffer am Griff hoch und mache einen Schritt zur Tür.
Der Mann legt mir eine Hand auf den Arm. »Warten Se man noch ’n bissken. De Kerls sin nich weit jenuch wech.«
Er hält den Kopf aus der Tür und schaut in beide Richtungen. Er winkt mir, mich zurückzuziehen und ich hocke mich hinter die Theke. Was, wenn er mich nun verraten will? Die SS in das Café lockt? Nein, das kann ich nicht glauben. Hm, will ich zumindest nicht hoffen. Der Teufel soll den Stern holen.
Der Mann kehrt zu mir an die Theke zurück.
»Angst, wat? Kann ick mir denken. Se ham sicher viel schlechte Erfahrung mit die Leute jemacht?«
»Mit einigen, ja. Nicht mit allen.« Ich bemühe mich, ihn hoffnungsvoll anzusehen.
»Warten Se man ab. Noch’n paar Wochen und det janze Pack hat de Juden schon immer jeliebt. Man hat se denn bloß missvastandn. Nu man im Ernst, Männeken. Weswejen machen Se det Dings nich ab? Denn kann Ihnen keener mehr wat, aba alle könn Se mal jern haben.«
»Tja, so einfach ist das alles nicht. Darauf steht KZ.«
»Ach wat. Um uns mang is allet in Klumpen und ohne dat Dings kontrolliert Se keen Aas. Jehn Se ma auf Tauchstation. Ick bin sofort wieder da.«
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