Natürlich entsprungene Handlungen haben einen korrektiven, selbstregulativen, reflektierenden und sozialen Charakter, u.a. auch aufgrund der funktionierenden rationalen Kontrolle und eines nicht existenten, zwanghaften, unkontrollierbaren und nach ständiger Befriedigung verlangenden bzw. gierenden Antrieb, der in gewisser Weise ein Eigenleben führt (Parallelität der Lebenswirklichkeiten).
Bei großen, größeren, erheblichen bis extremen psychischen Defiziten und Problemen/Störungen wegen mangelnder Grundbedürfniserfüllungen in der Kindheit muss der Intensitätsgrad der korrelierenden Ersatzhandlung bezüglich der Häufigkeit (Frequenz) wie der Qualität hoch bis sehr hoch sein, um ein ausreichendes Ersatzbefriedigungsniveau erreichen und überdies erhalten zu können.
In jedem Fall steht das Ausmaß der Ersatzhandlung in direkten Kontext zum Ausmaß der psychischen Schädigung. Die Dosierung einer Ersatzhandlung ist demnach abhängig vom Grad der Nicht-Bedürfniserfüllung und der korrespondierenden Frustration. Ist die Entwertung des Menschen sehr hoch, dann ist folglich der Umfang der Ersatzhandlung/Kompensation sehr hoch und umgekehrt.
Und genau hier liegen sowohl die Gefahr und der wesentliche Unterschied einer Ersatz- im Vergleich zu einer natürlichen Handlung wie auch der Grund, weshalb der Ansatz nicht mehr greift, dass der Anlass für eine Ersatzhandlung unbedeutend ist.
Da einerseits mit einer Ersatzhandlung und Kompensation niemals die angestrebte und psychisch notwendige Gleichartigkeit mit den ursprünglichen Grundbedürfniserfüllungen erlangt werden kann (z. B. kann weder ein Partner noch starker Konsum die nicht erlebte Geborgenheit in der Kindheit ersetzen) und das Grundbedürfnis und folglich der diesbezügliche Stimulus noch – unauslöschlich – vorhanden sind, andererseits der Befriedigungsfaktor bzw. -wert einer Ersatzhandlung angesichts des Gewöhnungs-/Abnutzungseffektes automatisch an Wirkung verliert bzw. nachlässt, gerät der Betroffene in eine lebenslange mehrschichtige Abhängigkeit, die ständig viel Energie beansprucht.
Eine Kompensation ist in der Quintessenz ein Krafträuber (die eingesetzte Energie ist größer als das erzielte Ergebnis) und ein Zeichen für Getriebenheit, Druck, Unfreiheit, Instabilität, Labilität, Unselbstständigkeit und Determiniertheit, währenddessen eine natürliche Handlung eine Kraftquelle bildet, die für identitätsgemäßen Substanzaufbau oder Bestätigung, Freiheit, Sicherheit, Selbstständigkeit, Mündigkeit und Unabhängigkeit steht.
Es wird nicht nur für den Aufbau respektive die Strukturierung der Ersatzhandlung oder einer psychischen Reaktionsweise (z. B. Neurose, Psychose) Energie benötigt, hingegen genauso für die Aufrechterhaltung und Verteidigung des Zustandes, weil das bewerkstelligte Pseudogleichgewicht, auch wenn es sehr schwach sein sollte, erhalten werden soll (Stichwort: metaphysisches Prinzip).
Dies ist der Fall, da dieses trotz der Schwäche des Pseudogleichgewichts, auch aus der Gewohnheit heraus, eine gewisse Stabilität, Sicherheit und Berechenbarkeit vermittelt und deshalb die Angst vor dem Verlust besteht.
Die Folge dieses Faktums ist, dass für eine Veränderung der Situation die notwendige Energie fehlt und die psychische Störung weder gebessert noch überwunden werden kann.
Instabile bzw. Pseudo-Identität
Das Problem von Menschen mit instabiler, defizitärer Identität ist ihr im menschlichen System bedingtes Ausgeliefertsein und ihre damit verbundene Determinierung.
Diese Personen sind auf ständige, vielgestaltigste Zuwendungen anderer Menschen – direkt oder indirekt – oder/und auf andere Ersatzhandlungen respektive Kompensationen (Produkte, Dinge, Leistungen, Ideologien, etc.) zur Aufrechterhaltung ihres identitätsgemäßen Status quo angewiesen und müssen deshalb zwangsläufig und in der Regel unbewusst ihre Lebensführung dementsprechend ausrichten.
Sie sind genötigt, sich erheblich anzupassen und müssen oftmals ihre persönlichen Wünsche verleugnen (Rationalisierung) und verdrängen, was wiederum zu noch größerer Unzufriedenheit, Erniedrigung und in der Folge zu offener oder unterdrückter, mitunter sich partiell explosiv entladender Aggression führt.
Diese Menschen können nicht ihr eigenes, wirklich selbstbestimmtes Leben bewerkstelligen, sondern sind wie eine Marionette fremdgesteuert. Die Fremdsteuerung besteht im Benötigen von ununterbrochenen und immer neuen Pseudo-Bestätigungen, die das vorhandene Defizit ausgleichen sollen (die Fremdsteuerung erfolgt ursächlich durch den entstandenen psychischen Impetus und symptomgemäß durch die Identitätsstifter bzw. identitätsstiftenden Faktoren).
Die als Identitätsgeber und Bedürfniserfüller zu bezeichnenden Personen besitzen deshalb eine Macht über den identitätsdefizitären Menschen, die häufig zum eigenen Nutzen missbräuchlich und manipulierend eingesetzt wird. Hierzu gibt es – gerade im (macht) politischen Bereich - genügend Beispiele in der Geschichte der Menschheit ...
Ergänzend muss angefügt werden, dass die Fremdsteuerung nicht nur durch Menschen, hingegen ebenfalls durch Sachen (u. a. Macht des Konsums / ein aktuelles Beispiel für die Macht eines Gegenstandes über seinen Nutzer ist das Handy, das als identitätsstützendes Medium wegen seines daraus zu ziehenden Befriedigungspotenzials Suchtcharakter entfaltet), Ideologien und Anschauungen erfolgen kann.
Hierzu eine kurze Anmerkung: Wenn dem kapitalistisch orientierten Menschen die Plattform und Bühne der bevorzugten Ersatzhandlung „Konsum“ (Stichwort: Droge Konsum) mit all ihren Facetten entzogen werden würde, wäre dies gleichbedeutend mit einem Bedürfnisverzicht und folglich einem kalten Entzug mit vielerlei belastenden Nebenwirkungen.
Da das eigentliche Urbedürfnis aber nicht mehr zu stillen ist, handelt es sich bei den über Ersatzhandlungen und Kompensationen erzielten Bestätigungen lediglich um einen nie endenden Nachhol- und versuchten Wiedergutmachungsprozess, der die existente Unsicherheit nicht beseitigen, sondern nur – im schlechten Fall - für kurze und - im besten Fall – für längere Perioden aus- und überblenden kann.
Menschen mit einer Identitätsproblematik haben das latente Gefühl fehlender Annahme und Akzeptanz der Um- und Mitwelt, also ein Mangel-, Hunger- bzw. Minderwertigkeitsgefühl. Darüber hinaus ist ihnen aufgrund eines Entwicklungsdefizits der Zugang zu sich selbst und der eigenen Emotionalität bloß sehr eingeschränkt möglich oder sogar gänzlich verwehrt.
In dieser Notwendigkeit der Bekämpfung des Mangelgefühles (im übertragenen Sinne als unstillbaren Appetit und Unfähigkeit des Sattwerdens zu bezeichnen) mit fortwährenden Ersatzbefriedigungen sind auch die Wurzel und der Hintergrund des auf ständigen Wachstum ausgerichteten menschlichen Alltages zu sehen und der weitverbreiteten, latenten Unzufriedenheit.
Grundsätzlich ist der Befriedigungswert einer Ersatz- und Kompensationshandlung geringer als von einer natürlich initiierten.
Weil zudem der Sättigungswert bzw. -Effekt der Substitut – Handlung (Befriedigungsqualität) wegen des Gewöhnungs-, Abnutzungs- und Abstumpfungsaspektes und des vergleichenden Moments (sich und seine Situation in Vergleich zu anderen Menschen setzen, dies entsprechend bewerten und dadurch folgende Steigerung der Ansprüche, um neue Befriedigung erreichen zu können) ständig nachlässt, muss analog eines Drogenabhängigen die Dosis und Frequenz permanent erhöht werden, um zumindest eine Minimum-Wirkung zu erreichen.
Dieses Prozedere ähnelt einem Fass mit einem ursprünglich kleinen und überschaubaren Loch im Boden, das mit der Zeit immer größer wird und deshalb immer mehr Inhalt benötigt, um den gleichen Pegel zu halten.
Dieser Beschleunigungs-, Wachstumswahn und ebenso –wahnsinn, ergo das alles immer schneller, immer größer, immer mehr sein muss, bestimmt unser modernes Leben und hält die Menschheit buchstäblich in Gefangenheit mit den bekannten, nicht selten selbst zerstörerischen und die Umwelt zugrunde richtenden Auswüchsen.
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