Denn nur in diesem Fall unterliegt das Bewusstsein nicht der manipulierenden Kraft des psychischen Elements, kann davon weitgehend losgelöst und objektiv reflektieren, Problemfelder und Missstände erkennen und dadurch eigenes Kraftfeld zur nachhaltigen, substanziellen Veränderung sein.
Kurz gesagt: Der Mensch ist dann imstande, seine persönliche Rezeptur - den Aufbau, die Zusammensetzung und die vorhandenen äußeren Hilfen - zu realisieren, die seine individuelle Identität geschaffen und geformt haben.
Der Kreis schließt sich, weil die Möglichkeit des wirklichen, konstanten Durch- und Klarblicks nur gegeben ist, wenn in der Frühkindheit und Kindheit – wie bereits in den vorherigen Kapiteln ausgeführt – die notwendige identitätsgemäße Basis gelegt wurde.
Hier wird die ganze Problemdimension und -tragweite für die Menschheit deutlich, da in der Regel in allen Gesellschaften bzw. Gesellschaftsformen die herausragende Bedeutung dieser frühkindlichen und kindlichen Phase mit den essenziellen Bedürfniserfüllungen bei Weitem – trotz oftmaliger anderslautender Lippenbekenntnisse - nicht ausreichend er- und anerkannt wird und deshalb nahezu jeder Mensch mit lebenslangen, mehr oder minder schwerwiegenden Folgen betroffen ist.
Momente gefühlter Einheit und Zusammengehörigkeit (auf die einzelnen unterschiedlichen Elemente des menschlichen Baukastens – Physis, Ratio, Psyche, physiologisches Befinden - einer Person bezogen), auch als Selbstfindung zu benennen, zeichnen sich durch absolute Ruhe und Entspannung, Zufrieden- und Gelassenheit, intellektuelle Klarheit und Erkenntnis aus.
In diesem Zeitraum hat der Mensch einen direkten, ungeschönten bzw. unverstellten Zugang zu seiner Gefühlswelt, erhält einen Einblick in sich und sein eigenes Leben und empfindet Glück im Sinne von Harmonie, Frieden, Übereinstimmung und Eintracht, er ist sich seiner selbst sicher.
Er ist demgemäß ganz nah bei sich selbst, nicht abgelenkt, gestört, belastet oder unterbrochen, jedoch in Berührung mit seiner Existenz und rückgekoppelt mit der eigenen Identität und dem Selbstwert.
Gründe für diesen transzendentalen Zustand sind sowohl die Aufhebung der Zerrissenheit, Grenzen und inneren Spaltung bzw. Teilung wie die Freiheit und Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen und die (vorübergehende) Außerkraftsetzung der Urangst, da sich der Mensch in einem universellen Gleichgewichtszustand befindet.
Die Transzendenz ist ein Zustand der (fast) völligen psychischen Ausgeglichenheit und des absolut freien, weil von der Psyche nicht instrumentalisierten Geistes.
Die menschliche Waage befindet sich dann in der absoluten horizontalen Position, eine Ruhestellung ohne energieintensive Schwankungen.
Gleichzeitig spürt der Mensch eine starke innere Kraft und ist energiegeladen, da die triebhafte Suche nach Identität (= der das tägliche Leben bestimmende Faktor), nicht aktiv ist und somit keine Energie in Ersatz- und Kompensationshandlungen gebunden und verbraucht wird. Energie wird freigesetzt und ist damit für andere Aufgaben vorhanden.
Zusammenfassend: Eine intakte, gesunde Identität ist die (nahezu) völlige Übereinstimmung mit den sich durch den menschlichen Bauplan ergebenden wesensbedingten Vorgaben. Der Mensch ist bzw. fühlt sich in diesen Momenten mit sich und seiner Ursächlichkeit identisch und ist angstfrei.
Instabile Identität – eine auf Ersatzhandlungen und Kompensationen aufgebaute Pseudo-Identität
Definition und Abgrenzung Ersatzhandlung und KompensationVorab müssen die Begriffe Ersatzhandlung und Kompensation, die sehr häufig im Buch verwendet werden und eine zentrale Bedeutung sowohl innerhalb der identitätsgemäßen Problematik wie im tagtäglichen Leben der Menschheit einnehmen, beleuchtet werden. Ersatzhandlung wird im Kontext mit der Psyche allgemein als eine Handlung angesehen, die an die Stelle der eigentlich gewollten bzw. laut menschlichen Bauplan vorgesehenen respektive benötigten tritt, wenn diese durch Verdrängung oder äußere Umstände nicht ausgeführt werden kann. Der Impuls und Antrieb für die originär gewollte Handlung wechselt zu einem anderen, häufig dem ursprünglichen Ziele nicht verwandten Ersatzziel, das entsprechende Ersatzbefriedigung bringen soll. Kompensation wird als Ausgleich oder Ersatz eines Defizits und Mangels (real existierend oder nur vermeintlich) in einen anderen Lebens- oder Verhaltensbereich (Ausweichen) oder durch andere Fähigkeiten definiert. Alternativ, und im identitätsgemäßen Kontext sehr passend, kann Kompensation überdies als Trostpflaster, Entschädigung, Gegengewicht, Wiedergutmachung, Neutralisierung (eines Mangels) und Genugtuung bezeichnet werden.
Im Zusammenhang mit der identitätsgemäßen Problematik müssen die Begriffe erweitert werden, da sie als Reaktion auf Frustrationen zu sehen sind, die durch eine Verletzung der lebensbestätigenden Erfüllungsmuster im Kindesalter entstehen. Diese Erfüllungsmuster müssen in einem laut menschlichen Bauplan vorgegebenen Regelprozess ablaufen.
Ist derlei nicht der Fall, dann bauen sich eine diesbezügliche lebenslange Sehnsucht (bildlich: je nach Ausmaß der Frustration ein mehr oder minder großes Hungergefühl) und der Versuch auf, alternativ gestillt zu werden. Jene nicht aus freien Stücken initiierte und in der Regel unbewusste Suche nach Gleichartig- und Wertigkeit des ursprünglichen Grundbedürfnisses führt zur Ersatzhandlung und Kompensation.
Ersatz- und Kompensationshandlungen sind demnach Zwangshandlungen.
Weil Ersatzhandlungen und Kompensationen ein Hilfsinstrument des metaphysischen Prinzips sind und ursächlich die Aufgabe haben, die sich aus der Nichtbefriedigung der Grundbedürfnisse entwickelten Disparitäten, Probleme und Widersprüche zu reduzieren und bestmöglich zu substituieren, um so die generelle Funktionsfähigkeit des Menschen zu erhalten, dienen sie bis zu einem gewissen Grad dem Überlebenstrieb (Elemente des Überlebenstriebes).
Psychisch motivierte Ersatzhandlungen und Kompensationen können zwar jeden Lebensbereich betreffen, ob privater, zwischenmenschlicher, partnerschaftlicher, freizeitgemäßer, sexueller, beruflicher, wirtschaftlicher, politischer, kultureller, karikativer, philanthropischer, altruistischer, zwischenstaatlicher oder religiöser Natur, lassen sich aber alle im Kern auf mangelnde Grundbedürfniserfüllungen und/oder traumatische Erlebnisse in der Kindheit zurückführen.
Da eine Ersatzhandlung und Kompensation die ursprünglich zugrunde liegende, in der Kindheit entstandene Problematik niemals gleichwertig ersetzen und damit beheben kann, bleibt das psychische Defizit weiterhin virulent.
Infolge des gelegten Impetus baut sich im Menschen eine Parallelität der Lebenswirklichkeiten auf (siehe dazu ursächliche und tatsächliche Lebenswirklichkeit), die viel Energie verbraucht, auf Dauer das Leben belastet und zur mehr oder minder starken Beeinträchtigung der Lebensqualität führt. Der Mensch lebt – unbewusst – in einer Parallelwelt.
Ein befriedigendes und von innerer Ruhe geprägtes Leben ist so nicht möglich.
Gerade bei traumatischen Erlebnissen oder sehr intensiven Verletzungen der psychischen Grundbedürfnisse kann sinnbildlich von den Geistern aus der Kinderstube bzw. Kindheit gesprochen werden, die den Betroffenen ein Leben lang immer wieder heimsuchen, ob in Form von Albträumen, vielgestaltigsten Angstzuständen, Auto- und Fremdaggressionen und sonstiger psychischer Reaktionsformen. Die Geister entsprechen dem nach wie vor existierenden Stimulus des ursächlichen, nicht befriedigten Grundbedürfnisses.
Die spezielle Ersatz-/Kompensationshandlungsstruktur eines Menschen kann als individuelle Überlebensstrategie bezeichnet werden.
Ersatzhandlungen und Kompensationen können, wie erwähnt, in jedem Lebensbereich vorkommen, unterscheiden sich aber in ihrem Intensitätsgrad bzw. in ihrer Wertigkeit.
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