Je stärker ausgeprägt die der Ersatzhandlung zugrunde liegende psychische Störung, ergo je größer das vorhandene psychische Defizit, desto tief verwurzelter der Stimulus, desto dringlicher die Triebkraft, desto höher der Energieeinsatz, desto massiver muss der Ersatzbefriedigungsgehalt sein (um eine Wirkung erzielen zu können) und desto beträchtlicher ist in Folge das Ausmaß bzw. die Dimension der Ersatzhandlung und Kompensation.
Eine Nebenbemerkung: Realistische Zielsetzung einer psychotherapeutischen Behandlung im Falle einer tiefgründigen Persönlichkeitsproblematik, die zwangsläufig jeweilige psychische Reaktionsformen mit korrespondierenden Ersatz- und Kompensationshandlungen hervorruft, ist die Ablösung von die Person und ebenfalls das Umfeld belastenden Verhaltensweisen in gemilderte und moderate, um somit den Alltag für den Leidtragenden wie ihre soziale Umgebung annehmbarer und positiver werden lassen.
Die Systematik ist ähnlich wie bei einer physischen Krankheit, die zwar nicht gänzlich heilbar ist, aber deren Symptome sich eindämmen und erträglicher gestalten lassen.
Zum Beispiel: In Folge einer Behandlung nimmt der bestehende latente Schmerz ab und deshalb kann das bisherige, hoch dosierte und stark schmerzstillende Medikament mit vielen und erheblichen Nebenwirkungen durch eines ersetzt werden, welches sowohl niedriger dosiert wie besser verträglich ist.
Ersatzhandlungen und Kompensationen sind zur sogenannten allgegenwärtigen Normalität geworden und dadurch werden mehrere Fragen aufgeworfen, deren Beantwortung eine erhebliche Relevanz in der Beurteilung des vorhandenen Zustandes des einzelnen Menschen wie der Gesellschaft im Ganzen hat.
>Wann muss von einer Ersatzhandlung und wann von einer natürlichen Handlung gesprochen werden? >Wie ist dies zu erkennen? >Macht es denn überhaupt einen Unterschied, ob es um eine natürliche oder eine ersatzgemäße Handlung geht, vor allem, wenn das – offensichtliche - Ergebnis praktisch identisch ist? >Wenn ja, worin ist dieser Unterschied zu sehen und welche Bedeutung hat dies für den Betroffenen und für die Gesellschaft? Vorab muss die natürliche Handlung respektive das natürliche Verhalten definiert und damit abgegrenzt werden. Die natürlich initiierte Handlung basiert weitgehend auf der freien Entscheidung, etwas Bestimmtes tun zu wollen und nicht, wenn auch unbewusst, tun zu müssen. Der Mensch hat also die Möglichkeit der freien Wahl, die Handlung dient dem Selbst- und nicht irgendeinem (determinativen) Fremdzweck. Da die Entscheidung nicht auf einem zu kompensierenden psychischen Defizit und dem korrelierenden psychischen Druck basiert, ist die Person von der Aufrechterhaltung und dem Ergebnis der Handlung (Befriedigung) nicht grundsätzlich abhängig und dadurch nicht in ihrer identitätsgemäßen Stabilität und generellen Funktionsfähigkeit gefährdet. Der Mensch kann aus der natürlichen Handlung im Vergleich zur Ersatzhandlung nachhaltig Befriedigung ziehen, nach Beendigung wirklich mit der Handlung abschließen und sich Neuem zuwenden, ohne im Teufelskreis der laufend notwendigen Wiederholungen der Ersatzhandlungen mit ihrem geringen Befriedigungspotenzial gefangen zu werden.
Aus welchen Quellen sich der Impetus für entsprechendes Verhalten und Handeln speist, hat demnach große Auswirkung auf die Ausprägung einer Handlung oder eines Verhaltens, auf die innere Verfassung des Menschen und damit auch auf deren gesellschaftliche Ausstrahlung.
Oberflächlich betrachtet könnte man meinen, dass der wirkliche Antrieb für eine Handlung egal sei, falls im Endeffekt das Ergebnis nahezu oder vollkommen gleich ist.
Ein Beispiel wäre die Berufswahl, die oftmals auf identitätsgemäßen Hintergründen beruht, weil über die mit dem Berufsbild verbundenen Attributen (Stichwort: gesellschaftliche Aufladung) besondere identitätsstützende (Ersatz) Befriedigungen generiert werden können.
Hier sei der Arzt genannt, der nicht nur Menschen helfen und ein gehobenes wirtschaftliches Niveau erreichen mag, sondern zudem gesellschaftliche Anerkennung, Prestige, Status (überspitzt Halbgott in Weiß) und eine gewisse Macht. Für den Patienten spielt es in der Regel keine Rolle, welche Motive der Arzt für seine Berufswahl hatte, Hauptsache, die Behandlung ist gut und erfolgreich. Erst wenn der Arzt über das Ziel der eigentlichen Behandlung hinausschießen und beispielsweise entgegen dem Arztethos aufgrund einer (unverantwortlichen) Profilierungssucht und eines damit verbundenen Überehrgeizes nicht zugelassene Behandlungsmethoden oder Arzneien anwenden würde, bekäme der identitätsgemäße Hintergrund der Berufswahl für den Patienten eine Relevanz.
Ein weiteres Beispiel wäre der Philanthrop, der sozial Benachteiligte und Bedürftige unterstützt und durch sein Tun bewusst oder unbewusst Bewunderung, Lob, Achtung, Ehrung und Ansehen erreichen will. Hier ist es dem Unterstützten und ebenfalls der Gesellschaft gleichgültig, welche Motive der Philanthrop für sein Handeln ursächlich hat, vielleicht ist nur die Art und Weise, wie er das verteilte Geld ursprünglich erworben hat, ein Thema.
Oder ein Sozialarbeiter, der Entwicklungshilfe in der sogenannten dritten Welt leistet und armen, entrechteten Menschen zur Seite steht. Ob diese Arbeit eigentlich einem identitätsgemäßen Kompensationsbedürfnis nach Anerkennung und Akzeptanz entsprungen ist, interessiert dem Hilfsbedürftigen nachvollziehbarerweise nicht.
Oder der Politiker, der sich nachdrücklich für die Bürger, deren Belange und die gesellschaftliche Gestaltung einsetzt. Ob dieses Engagement nur von der hehren Verantwortung der Gesellschaft gegenüber getragen wird (wie dies in der Regel vorgegeben wird) oder tiefgründig das Bedürfnis nach Macht, Einfluss, Anerkennung und auch Bekanntheit/Prominenz verfolgt wird, interessiert die Menschen erst, wenn es zu Machtmissbrauch und Korruption kommt.
Dies sind Beispiele für Fälle, bei denen der gegenwärtige identitätsgemäße Anlass für eine Ersatzhandlung für die Außenwelt weder eine negative Bedeutung hat noch einen belastenden Faktor darstellt, hingegen oftmals sogar gegenteilig wirkt, indem die Gesellschaft bzw. konkrete Gruppen von dem psychisch-defizitären Antrieb und den daraus resultierenden Handlungen profitieren.
Es darf aber nicht der Fehler der Verallgemeinerung gemacht werden, da sehr oft die Art und Ausprägung der Ersatzhandlung und Kompensation zulasten anderer Menschen, anderer Gruppierungen, der Gesamtgesellschaft und überdies des Betroffenen selbst gehen.
Ein Beispiel wäre gewalttätiges und/oder kriminelles Verhalten, das nahezu immer eine Ersatz- und Kompensationshandlung ist (siehe Kapitel „Entlarvung der Lebenswirklichkeit“, Ursache der Kriminalität). Deren leidtragende Empfänger haben die schädlichen Auswirkungen zu tragen und deshalb ist für sie die Ursache für das jeweilige Handeln zwangsläufig von großer Relevanz.
Auch ist es für die Bekämpfung und Präventivmaßnahmen wichtig, die tatsächliche Ursache und den Hintergrund für eine gesellschaftsschädigende Handlung zu kennen, um richtige Schritte bei der Aufarbeitung setzen zu können und sich nicht nur in symptomgemäßer Kosmetik zu verlieren.
Allgemein beschreibt die angesprochene Ausprägung bzw. Ausbildung einer Handlung, >wie weit, wie intensiv oder sogar exzessiv sie betrieben wird, >ob sie (zumindest in gewissem Ausmaß) von Vernunft und Verantwortungsbewusstsein getragen wird oder durch Unverantwortlichkeit, vordergründiger Gedankenlosigkeit und in der Konsequenz schädlichen Auswüchsen gekennzeichnet ist, >ob sie demnach mit wichtigen, weil nicht zu Problemen oder zerstörerischen Szenarien führenden, Hemmschwellen versehen ist oder sogar Handlungen deshalb von vornherein ausschließt (präventiver Schutzcharakter), weil diese der eigenen Person, der Gesellschaft und der Natur nicht zuzumuten wären oder >ob sie aufgrund des psychisch-defizitären Motives und der damit verbundenen zwangsläufigen Instrumentalisierung der Ratio keiner oder nur einer eingeschränkten Regulierung unterliegt. Das Verhalten von Menschen, die erheblich psychisch gestört sind, mutet oft wie fremdgesteuert an, wobei diese Fremdsteuerung nicht nur in der Instrumentalisierung der Ratio durch die Psyche begründet ist, sondern ebenfalls in der Instrumentalisierung des ursächlichen psychischen Profils vom starken Impetus für Ersatzhandlungen, der aus der psychischen Schädigung hervorgegangen ist. Der wirkliche Zugang zu diesen Menschen ist verwehrt.
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