Philipps Vater schlug vor: „Wir nehmen gleich das Gepäck mit, dann müssen wir nicht zweimal laufen.“
Mit diesen Worten ging Philipps Vater ums Auto herum und öffnete den Kofferraum. Als Herr Petersen das viele Gepäck sah, pfiff er kurz auf zwei Fingern seiner rechten Hand. Einen kurzen Augenblick später kam ein nahezu weißblonder Junge hinter dem Haus hervor.
Er begrüßte die Anwesenden freundlich aber kurz mit: „Moin!“
Der Junge war etwa so alt wie Philipp. Er war nur etwas größer und kräftig gebaut. Dabei war er keinesfalls dick, sondern eher sportlich. Der Junge sah Herrn Petersen sehr ähnlich, so dass Philipp sofort vermutete, dass er sein Sohn sein musste. Seine kurzen, struppigen Haare wirkten so, als hätten sämtliche Stürme aller Weltmeere sie zerzaust. Er trug eine blaue Latzhose und einen weiten Sommerpullover. Philipp war sehr erfreut, einen Jungen in seinem Alter hier anzutreffen. Zumal der Junge so aussah, als wenn man allerlei Aufregendes mit ihm anstellen könnte. Es war für Philipp der erste Lichtblick in dem bislang unerfreulichen Urlaub.
Ohne zu fragen ging der Junge zu Philipps Vater an den Kofferraum und griff sich zwei große Koffer. Damit schritt er auf den Hauseingang zu.
Herr Petersen rief dem Jungen zu: „Die Schneiders kommen in Zimmer drei und vier.“
„Geht klar“, antwortete der Junge und verschwand mit den Koffern im Haus.
Philipp bekam ein schlechtes Gewissen, weil der Junge so viel tragen musste. Daher ging er zum Auto und nahm seine große Reisetasche selbst heraus. Er lief damit dem Jungen hinterher ins Haus. Die übrigen Familienmitglieder und Herr Petersen folgten mit dem restlichen Gepäck. Der blonde Junge stieg eine Holztreppe hinauf. Im ersten Stock öffnete er eine Zimmertür und stellte die Koffer hinein. Mit einem „Bitte sehr“ verschwand er wieder nach draußen, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Herr Petersen blieb mit der Familie Schneider oben und zeigte ihnen die Räume. Philipps jüngste Schwester Mimmi sollte mit ihren Eltern in dem einen der beiden Zimmer schlafen. Herr Petersen hatte dort ein zusätzliches Bett für sie aufgestellt. Dann kam aber der nächste Schock für Philipp. Er sollte sich gemeinsam mit seiner Schwester Isabelle das andere Zimmer teilen. Einzelzimmer gab es in der kleinen Pension nicht. Philipp war empört. Zuhause hatten alle drei Kinder ihr eigenes Zimmer. Nun sollte er hier auf seine Privatsphäre verzichten.
Wütend sagte Philipp: „Das kommt gar nicht in Frage. Ich schlaf doch nicht mit meiner Schwester in einem Zimmer.“
Isabelle erwiderte ihm frech: „Du kannst ja mit Mimmi tauschen und bei den Eltern schlafen, wenn dir das lieber ist.“
Das wollte Philipp erst recht nicht. Damit war aber noch nicht genug. Von den komfortablen Hotels war Philipp es gewohnt, ein eigenes Bad in seinem Zimmer zu haben. Hier zeigte ihnen Herr Petersen jedoch ein Badezimmer am Ende des Ganges, das alle Gäste gemeinsam benutzen mussten. Danach wünschte Herr Petersen noch einen angenehmen Aufenthalt und ließ die Schneiders allein in ihren Zimmern.
Philipp war außer sich: „Hier bleibe ich keine zwei Minuten.“
Isabelle sagte dreist zu ihm: „Sei froh, dass es hier kein Plumpsklo quer über den Hof gibt.“
„Das fehlte noch“, schnaubte Philipp vor Zorn.
Sie packten ihre Sachen aus. Isabelle sortierte den Inhalt ihres Koffers sorgfältig in den Kleiderschrank ein. Philipp hingegen stopfte nur seine Reisetasche unausgepackt unten in den Schrank. Nachdem das Gepäck verstaut war, erforschten die Schneiders etwas das Haus. Nirgendwo gab es ein Fernsehgerät oder einen Anschluss für einen Computer. Selbst ihre Handys hatten hier keinen Empfang.
Philipps Wut darüber steigerte sich immer mehr: „Wie soll ich hier nur die nächsten Tage überstehen, wenn es noch nicht einmal das Allernotwendigste gibt. Wir sind hier völlig von der Außenwelt abgeschnitten.“
Philipps Mutter entgegnete: „Freu dich doch, dann können wir unseren Urlaub ungestört in Ruhe genießen.“
Anschließend machte die gesamte Familie Schneider einen kleinen Spaziergang, um die Umgebung zu erkunden. Von dem Haus war es nicht weit bis zur See. Dort gab es einen schönen Strand, der abseits der öffentlichen Badestrände lag. Der Sand war weiß und fein. Anschließend gingen die fünf in den kleinen Ort, der nur aus einer Straße bestand. In dem einzigen Geschäft, das es dort gab, kaufte Philipps Mutter einen Stapel Ansichtskarten und ein Mitbringsel als Dank für die Nachbarn, die in der Zwischenzeit auf ihr Haus in Hamburg aufpassten.
Als die Schneiders wieder in die Pension zurückkehrten, kamen sie gerade rechtzeitig zum Abendessen. Im Erdgeschoss befand sich ein großer Raum, der den Gästen als Aufenthaltsraum und als Speiseraum diente. Es gab zum Abendessen ein leckeres Bauernfrühstück, das Herr Petersen selbst zubereitet hatte. Philipps Stimmung besserte sich dadurch etwas, da er gerne Bauernfrühstück aß. Trotzdem war er mit dem bisherigen Verlauf seines Urlaubs alles andere als zufrieden. Nach dem Essen saßen die Schneiders im Aufenthaltsraum zusammen. Frau Schneider schrieb ihre ersten Ansichtskarten, Herr Schneider las in einer Zeitung, die auf einem kleinen Tischchen für die Gäste bereit lag, und die beiden Mädchen spielten ein Brettspiel, das sie sich aus einem Schränkchen genommen hatten. Nur Philipp saß da und blies Trübsal. Er dachte an den Jungen, der ihnen mit dem Gepäck geholfen hatte. Philipp fragte sich, ob er ihn wiedersehen würde und ob sie dann zusammen etwas Spannendes erleben könnten.
Es wurde spät und die anderen Gäste waren immer noch nicht eingetroffen, obwohl es schon lange dunkel war. Schließlich gingen die Schneiders hinauf in ihre Zimmer. Philipp zog sich im Zimmer um, während sich seine Schwester Isabelle im Badezimmer für die Nacht zurechtmachte. Immerhin gab es im Zimmer ein Waschbecken, an dem Philipp sich waschen und die Zähne putzen konnte. Philipp musste sich mit seiner Schwester nicht nur das Zimmer, sondern auch das Ehebett darin teilen. Er konnte nicht einschlafen, da er es nicht gewohnt war, mit jemandem anderen in einem Zimmer zu schlafen. Es störte ihn, dass seine Schwester neben ihm lag und im Schlaf herumwühlte.
Dann hörte Philipp Schritte und Stimmen auf dem Gang. Offenbar waren nun die anderen Gäste gekommen. Philipp war neugierig, ob sich ein Junge darunter befand, mit dem er etwas unternehmen konnte. Am liebsten wäre er sofort noch im Schlafanzug auf den Gang gelaufen, um nachzusehen. Das fand er aber zu aufdringlich und er wollte nicht gleich zu Beginn unangenehm auffallen. Daher blieb er im Bett liegen und horchte auf die Stimmen, die nach kurzer Zeit wieder verstummten. Philipp konnte nicht einschlafen, da er ganz unruhig war. Er konnte es kaum ertragen, bis zum nächsten Morgen abwarten zu müssen. Philipp wollte unbedingt wissen, ob es noch einen gleichaltrigen Jungen in der Pension gab. Spontan fiel ihm der Junge mit den struppigen Haaren ein, der ihnen das Gepäck getragen hatte. Wenn dieser Junge der Sohn von Herrn Petersen war, dann müsste er hier im Haus wohnen. Ob er ihm wieder begegnen würde? Ob er mit ihm zusammen etwas Interessantes anstellen könnte? Diese Fragen quälten Philipp bis spät in die Nacht hinein. Irgendwann schlief Philipp doch noch ein.
2. Noch mehr Enttäuschungen
Als die Schneiders am nächsten Morgen den Speiseraum betraten, saß dort bereits eine Familie an einem der Tische und frühstückte. Schneiders grüßten freundlich und nahmen am Nachbartisch Platz. Ihr Tisch war bereits gedeckt. Speisen und Getränken holten sie sich von einem kleinen Buffet, das auf einer Anrichte liebevoll zurechtgemacht war. Herr Petersen kam kurz herein und wünschte seinen Gästen einen guten Morgen und guten Appetit.
Von seinem Platz aus musterte Philipp die neu hinzugekommene Familie kritisch. Das war die erste große Enttäuschung an diesem Tag, denn ein Junge in etwa seinem Alter war nicht dabei. Neben den beiden Eltern gab es ein Mädchen, das etwas jünger war als er selbst, und einen kleinen Jungen in Mimmis Alter. An ihrem Dialekt konnte Philipp hören, dass die Familie irgendwo aus Süddeutschland stammen musste. Das Mädchen hatte lange, dunkle Locken, die ihr schmales Gesicht umrahmten. Ihre dunklen Augen leuchteten zwischen ihren Haaren hervor. Philipp fragte sich, wie es möglich sein konnte, dass so dunkle Augen so kräftig leuchten können. Das Mädchen trug ein kurzes Strandkleid mit einem fröhlichen Muster darauf und bunte Flipflops. Als sie sah, dass Philipp sie betrachtete, lächelte sie ihn freundlich an. Es war jedoch Philipp unangenehm, dass sie bemerkt hatte, wie er sie ansah. Daher lächelte er nur kurz zurück und wand schnell seinen Blick ab.
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