Die Mutter lachte und Tobias schloss sich ihr an. „Du bist aber schon ein großes Mädchen. Wie alt bist du denn?“
„Sechs Jahre.“
„Dann gehst du bestimmt schon in die Schule?“, fragte er.
„Ja, in die erste Klasse. Aber in meiner alten Schule hat es mir besser gefallen als hier, das war ...“ Mia suchte nach den richtigen Worten und ihre Mutter sprang ein: „Ein Schulwechsel, mitten im Jahr ist immer etwas problematisch. Neue Lehrer, eine neue Klasse und die ungewohnte Umgebung. Leider ließ sich der plötzliche Umzug aber nicht vermeiden. Und zum Glück haben wir ja auch den Opa, der sich um sie kümmert.“
„Ja“, krähte jetzt die Kleine, „Opa geht immer mit mir auf den Spielplatz, da wo wir jetzt wohnen. Opa ist lieb.“
Tobias sah der Mutter ins Gesicht und meinte: „Ich werde sehen, was ich für sie tun kann. Ich werde schon eine Lösung finden.“
Charlotte Hensenbrugger nickte dankbar.
Die ersten Interessenten reichten Tobias ihre ausgefüllten Unterlagen. Ein junger Mann trat an ihn heran und drückte ihm den ausgefüllten Vordruck und einen Umschlag in die Hand. Mit einem Augenzwinkern meinte er: „Meine Bewerbungsunterlagen für die Wohnung.“
Tobias blickte auf den Zettel und sah neben dem Namen ein dickes Kreuz. Verwundert wollte er den Mann fragen, was es damit auf sich haben sollte, als dieser sich schon entfernt hatte. Tobias konnte ihn zwischen den Menschen in der Wohnung nicht mehr ausmachen. Neugierig blickte er in das Kuvert und erkannte mehrere zwanzig Euro Scheine. Es mussten mindestens fünf an der Zahl sein.
Nach und nach leerte sich die Wohnung und schließlich blieb Tobias Kestel mit einem Stapel ausgefüllter Unterlagen und dem Umschlag alleine zurück. Unschlüssig betrachtete er das Geld, steckte es aber schließlich achselzuckend ein. Ein kleiner Nebenverdienst konnte ja nicht schaden ...
Es war richtig heiß. Der ganze Monat August konnte mit herrlichem Sommerwetter aufwarten und Tobias Vater baute im Garten ein Planschbecken für Steffi, seine Schwester, auf, das Tobias auch mitbenutzen durfte. Sofern Steffi es erlaubte.
Stefanie erlaubte es immer und ausnahmslos. Jedenfalls so lange, wie Tobias sie mit Schokolade und anderen Süßigkeiten versorgte. Und da bahnte sich das eigentliche Problem an: Tobias verfügte über keinen Pfennig Taschengeld mehr und die letzten beiden Tafeln Schokolade, die er noch besaß, würden in zwei Tagen aufgebraucht sein. Er musste irgendwie an Süßigkeiten herankommen, wollte er den Rest des Monats nicht seiner Schwester beim Plantschen im kühlen Wasser zusehen.
Doch eine Lösung seines Problems war in Sicht, denn heute war sein großer Tag. Der Tag seiner Einschulung! Tobias träumte von einer großen Schultüte, randvoll mit den leckersten Süßigkeiten. Es wären so viele Bonbons, so viel Schokolade und Lutscher darin, dass er selbst auch ein klein wenig davon würde naschen können. So erhoffte er es sich jedenfalls.
Leider folgte seine Mutter momentan dem aktuellen Trend, dass alles ‚gesund‘ sein musste. Kekse aus irgendeiner Masse, die eher an trockenes Knäckebrot, denn an leckere Plätzchen erinnerten. Das Mittagessen mit durchweg ‚gesunden‘ Zutaten, aber wenig schmackhaft. Und Nudeln mit Tomatenketchup gab es ohnehin nicht mehr. Zum Glück verabscheute seine Schwester mit zunehmendem Alter den Spinat ebenso wie er und dieses Essen war stillschweigend vom Ernährungsplan verschwunden.
Aber heute war sein Tag! Am Nachmittag würden einige Verwandte, Oma und Opa und eine Tante zu Besuch kommen und die Einschulung zusammen mit ihnen feiern. Und natürlich dürfte ein jeder Geschenke, Süßigkeiten und vielleicht auch die ein oder andere D-Mark für ihn mitbringen. Es musste einfach so sein!
„Verdammt, Tobias, wo bleibst du?“ Seine Mutter rief nach ihm aus der Diele, in der sie mit seiner kleinen Schwester auf ihn wartete. Wie er wusste, begann der Tag mit einem Gottesdienst in der Kirche neben der Schule und erst danach ging es in den Klassenraum selbst. Tobias war aufgeregt und ängstlich zugleich. Ein neuer Abschnitt in seinem Leben begann. Oder wie sein Vater ihm oft genug eingebläut hatte: „Jetzt beginnt der Ernst des Lebens!“ Tobias konnte sich nichts darunter vorstellen, nickte aber brav, um seinen Vater nicht zu verärgern. Der lächelte dann zufrieden und wenn er wirklich gute Laune hatte, dann legte er ihm sogar die Hand auf die Schulter.
Tobias rieb an dem Fleck an seinem Knie herum. Für den ersten Schultag hatte seine Mutter ihn extra ‚fein gemacht‘ und einen dunkelblauen Anzug besorgt. Er passte nicht so richtig und Tobias befürchtete, dass die Kleidung vom zwei Jahre älteren Nachbarjungen stammte. Auf jeden Fall war niemand mit ihm einkaufen gegangen und er musste den Anzug auch in keinem Geschäft anprobieren.
Jedenfalls war da jetzt der braune Schokoladenfleck, den er seiner Schwester verdankte. Sie hatte mit einem Stück Schokolade nach ihm geworfen, als er nicht direkt auf die Frage antwortete, wie sie in ihrem neuen Kleid aussah. Das Kleid kauften seine Mutter und Steffi in einem Geschäft für ausgesuchte Kindermoden schon Tage zuvor.
„Wenn du nicht sofort kommst, dann hole ich dich!“, drang die drohende Stimme an sein Ohr.
Um dem kommenden Ärger zu entgehen, rief er hastig „Ich komme“ und verdoppelte seine Bemühungen den Fleck zu entfernen. Doch durch die Wärme der Reibung vergrößerte er ihn nur noch mehr. Schließlich gab der Junge seufzend auf.
„Wie siehst du denn aus?“, schrie ihm seine Mutter entgegen, kaum dass sie ihn erblickte. Natürlich bemerkte sie den Fleck sofort. „Ausgerechnet jetzt musst du noch Schokolade in dich hineinstopfen? Du weißt doch, wie ungesund das ist! Was ist denn bloß los mit dir Junge? Da macht man und tut und schuftet und das ist dann die Dankbarkeit, die man erfährt.“ Während seine Mutter weiter vor sich hin schimpfte, rieb sie mit einem feuchten Lappen an seinem Knie herum. Die Hose war nun an der Stelle nass und der Fleck vergrößerte sich noch weiter. Es machte jetzt den Anschein, als hätte er in die Hose gemacht. Zum Glück befand sich der braune, feuchte Fleck nicht auf der Rückseite der Hose.
Nach ein paar Minuten gab sie es auf. „Dann musst du halt so an deinem ersten Schultag gehen“, meckerte sie. „Dann erhält die Lehrerin schon direkt den richtigen Eindruck von dir!“
Sie blickte an ihm herunter, wandte sich zum Gehen und stutze plötzlich. Wo sind denn dein Ranzen und die Schultüte? Los, geh und hol die Sachen und beeil dich, wir sind schon spät dran.“
Tobias wusste zwar, wo sich sein Ranzen befand, war sich aber nicht sicher, ob sie schon heute die Schulsachen mitnehmen sollten. Jedenfalls hatte niemand etwas in dieser Hinsicht erwähnt. Wo seine Mutter aber die Schultüte verwahrte, konnte er beim besten Willen nicht sagen. „Vielleicht brauchen wir den Ranzen heute noch nicht“, bemerkte er kleinlaut und fast flüsternd.
„Was hast du gesagt? Laut und deutlich und wohlartikuliert! Verdammt, wie oft muss ich das denn noch predigen?“
Tobias konnte zwar mit ‚laut und deutlich‘ etwas anfangen, was aber ‚wohlartikuliert‘ bedeutet, verschloss sich ihm. „Kann doch sein, dass wir den Ranzen heute nicht brauchen“, wiederholte er etwas lauter. „Und wo die Schultüte ist, weiß ich nicht.“
„So so, der Herr entscheidet jetzt, ob man in der Schule einen Ranzen braucht oder nicht“, stieß seine Mutter mit rotem Kopf hervor und Tobias senkte den Blick. Sie war nahe davor, die Geduld zu verlieren und das bedeutete mindestens eine Ohrfeige für ihn. „Du holst jetzt sofort deinen Ranzen und die Schultüte liegt in der Küche. Wärst du nicht so trödelig, wüsstest du das alles!“
Tobias drehte sich rasch um, um den drohenden Schlägen zu entgehen. So schnell ihn seine kleinen Beine trugen, holte er den Ranzen und die Schultüte. Darin klapperte es verführerisch und vor seinen Augen erschienen Schokoladen, Bonbons und andere Süßigkeiten. Leider hatte seine Mutter keine Zeit erübrigen können und war nicht zum gemeinsamen Basteln in die Schule gekommen, wie all die anderen Mütter. Irgendwann brachte sie diese fertige Tüte von einem Einkauf mit nach Hause. Tobias gefiel sie nicht sonderlich, denn es handelte sich eindeutig um eine Mädchenschultüte. Auf einem rosafarbenen Untergrund mit goldenen Sternen tanzte irgendeine Märchenfigur in einem scheußlichen Ballettkostüm. Doch es kam schließlich auf den Inhalt an und außerdem blieb ihm ja keine Wahl.
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