„Nur zu, sie können sich ruhig eine Tafel Schokolade nehmen! Aber mit Schokolade kommen sie nicht weit, mein Freund. Ich habe etwas Besseres für sie“, sagte er verschwörerisch.
Berengar war zu einer Kiste gegangen und holte daraus etwas hervor. Es waren Geldscheine, die er Viktor gab.
„Echt, wobei auch ein paar Blüten dabei sind können, so genau weiß ich es gar nicht.“
Ein zweiter und dritter Stapel Scheine folgte. Es waren unterschiedliche Währungen, aber hauptsächlich Dollar-Noten.
Ob dieses Geld aus dem „Unternehmen Bernhard“ stammte, überlegte Viktor.
Dieses Unternehmen war zwar geheim gewesen, aber im Reichssicherheitshauptamt gab es immer wieder Leute, die ihren Mund nicht halten konnten. Meistens hielten sie ihn danach für immer.
Angeblich war Falschgeld in großer Menge von Häftlingen des Konzentrationslagers Sachsenhausen hergestellt worden: US-Dollar und britisches Pfund, ebenso wurden Briefmarken und diverse Dokumente dort gefälscht. Ob dies der Wahrheit entsprach, konnte Viktor nicht beurteilen.
Der Abt bat Viktor die steile Treppe wieder hinauf zu gehen, er löschte wieder die Kerzen und als sie oben im Zimmer waren, schloss der Abt die Falltür und rollte den Teppich zurück an seinen Platz. Berengar setzte sich an seinen Schreibtisch und schrieb etwas auf einen Briefbogen. Anschließend faltete er das Blatt Papier zusammen und erklärte:
„Das ist ihr Empfehlungsschreiben. Mit diesem gehen sie nach Rom. Bischof Hudal vom Priesterkolleg „Collegio Teutonico“ von „Santa Maria dell´Anima“ wird Bescheid wissen und ihnen einen neuen Pass beim Roten Kreuz beschaffen. Danach können sie im Hafen von Genua ein Schiff nach Argentinien nehmen und sind damit in Sicherheit.“
Sein Gast nahm das Schreiben und bedankte sich.
„In ein paar Tagen wird ein Einheimischer namens Kraudinger hier sein, der wird sie über die Grenze nach Südtirol führen. So lange müssen sie noch bei uns im Kloster bleiben. Wenn sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, ich habe noch eine Menge zu tun.“
Der Abt deutete zur Tür. Viktor Vossler ärgerte es, dass man ihm in letzter Zeit ständig sagte, was er zu tun hatte. Früher hatte er die Anweisungen und Befehle gegeben und die anderen mussten tun was er sagte. Er schluckte seinen Groll hinunter, denn schließlich war er auf die Unterstützung des Abtes angewiesen. Ohne Hilfe von seinem väterlichen Freund Heinrich von Strelitz, dem bayrischen Fahrer Breitenhuber und dem Abt wäre er vielleicht schon von den Alliierten in Gewahrsam genommen worden und würde jetzt in einer Gefängniszelle sitzen. Viktor wollte sich an die Anweisungen halten, denn nur so würde er sicher in Argentinien ankommen.
In den nächsten Tagen wartete er auf den Mann, der ihn über die Grenze bringen würde. Um sich die Zeit zu vertreiben, machte Viktor Vossler Spaziergänge in der näheren Umgebung des Klosters, saß auf einer Bank im Kräutergarten und machte Kraftübungen in seiner Schlafkammer.
Die Ruhe, die das alte Kloster und die Mönche ausstrahlten, ließen ihn entspannen. Die letzten Wochen in Berlin waren aufgrund der ständigen Bombardements der Alliierten anstrengend gewesen. Die Nächte hatte er im Bunker verbracht, in dem man doch keinen Schlaf fand. Wie froh war er, dass dies nun alles vorbei war.
Die Mahlzeiten nahm er mit den Mönchen ein, doch den Gottesdiensten blieb er fern. Einmal schlug er die Bibel auf, die in seiner Schlafkammer lag.
„Darum sollst du zum Hause Israel sagen: So spricht Gott der Herr: Kehrt um und wendet euch ab von euren Götzen und wendet euer Angesicht von allen euren Gräueln“, las er stirnrunzelnd. Was hatte das zu bedeuten? Verärgert schlug er das Buch zu.
Endlich traf ein Mann im Kloster ein.
„Kraudinger“, brummte er. „Ich werde sie über die Grenze bis nach Meran bringen. Natürlich nicht umsonst“, erklärte er und grinste Viktor Vossler frech ins Gesicht.
Der Mann war dünn, hatte schwarze glatte Haare, schmale dunkle Augen, die ständig misstrauisch umherwanderten. Mitte 50 schätzte Viktor sein Alter. Eine schlecht verheilte Narbe zog sich von der rechten Wange bis hinunter zum Hals. Fast ununterbrochen rauchte er und seine Finger waren vom Tabak gelblich gefärbt. Kraudinger und Vossler verließen das Kloster noch am selben Tag zu Fuß.
Kraudinger trug dicke Wanderstiefel an den Füßen, einen Rucksack auf den Schultern und hatte einen hölzernen Wanderstock bei sich. Sofort legte er ein ordentliches Lauftempo vor. Viktor Vossler war für eine Bergwanderung nicht ausgerüstet. Seine Schuhe waren normale Straßenschuhe und die Reisetasche war ebenfalls unpraktisch. Doch der Bergführer nahm wenig Rücksicht auf seinen Begleiter. Doch es dauerte nicht lange bis Viktor seinen Gehrhythmus gefunden hatte. Er war froh ausreichend körperlich fit für so eine Wanderung zu sein. Sie liefen schweigend, was Viktor Gelegenheit gab über die vergangenen Jahre nachzudenken und natürlich über die Zukunft in einem für ihn fremden Land in Südamerika.
Am ersten Tag kehrten sie abends in das Gasthaus „Zum Wolf“ ein. Dieses Mal hing nicht der Gekreuzigte über der Eingangstür, sondern ein handgemalter Wolfskopf. Kraudinger bestellte für sie beide beim Gastwirt eine Schinkenplatte mit Brot, die sie ebenso schweigend aßen. Selbst beim Essen rauchte der Mann. Er drückte seine Zigarette aus und schob ein Stück Schinken in den Mund. „Das Geld für heute“, forderte er kauend.
Viktor gab ihm angewidert das Geld. Selten war ihm so eine unsympathische Person begegnet. Wie froh würde er sein, wenn er diesen Mann in Meran los sein würde. Bis Meran waren es allerdings noch einige Tage Fußmarsch, wie ihn Kraudinger wissen ließ.
Nach einem deftigen Frühstück am nächsten Tag, mit Eiern und Speck, bezahlte Viktor den Wirt. Er zog einfach ein paar Scheine aus einem der Bündel, die ihm der Abt im Kloster gegeben hatte. Ob es sich dabei um gefälschtes Geld handelte, wusste er nicht und er hoffte, der Wirt würde es nicht überprüfen.
Vom Gasthaus machten sich Kraudinger und Vossler weiter auf Richtung Süden. Die Landschaft war herrlich. Sie kamen an einem kristallklaren See vorbei, auf dessen Oberfläche sich die Berge widerspiegelten, sie passierten Holzbrücken über sprudelnde Bäche, gingen durch dunkle Wälder und überquerten bunte Blumenwiesen.
Tagsüber wanderten sie, nachts schliefen sie in entlegenen Gasthäusern, in anderen Bergklöstern oder in verlassenen Berghütten.
Eines Tages hatten sie vorsichtig eine Wiese mit weidenden Kühen überquert, als Kraudinger auf einmal verkündete: „Jetzt sind wir in Südtirol!“
Die nächste Nacht verbrachten sie abermals in einer Hütte. Kraudinger wollte die Tür der Hütte auftreten, als er bemerkte, dass die Tür bereits einen Spalt geöffnet war.
Er gab Viktor ein Zeichen leise zu sein und holte aus seinem Rucksack ein Messer. Mit dem Messer in der Hand stieß er die Tür weiter auf und trat in die Hütte. Viktor wartete so lange draußen, bis Kraudinger ihm ein erneutes Zeichen gab eintreten zu können.
„Alles in Ordnung. Hier ist niemand“, grummelte er und steckte das Messer zurück in den Rucksack.
Die Männer standen in einem größeren Raum mit einem Tisch, um den sich eine Eckbank wandte, gegenüber befand sich ein Kachelofen.
„Was ist mit der Tür da?“, fragte Viktor und zeigte auf die niedrige Tür neben dem Kachelofen, die eher wie eine Luke wirkte.
„Sie klemmt!“, antwortete Kraudinger.
„Dahinter ist sicher der Stall, aber Vieh wird wohl nicht mehr darin sein.“
Er ging ein paar Schritte und deutete auf einen Nebenraum, in dem ein Bett und ein Schrank standen.
„Hier können sie schlafen“, bestimmte er.
Aus einer Speisekammer nahmen die Männer ein paar Lebensmittel und aßen davon. Reich gefüllt war sie allerdings nicht, aber es reichte um den Hunger zu stillen. Danach ging Viktor in den Nebenraum. Er entkleidete sich nicht, sondern zog lediglich seine Jacke aus und deckte sich damit zu. Das stundenlange Wandern hatte ihn erschöpft. Seine Füßen schmerzten vom Gehen. Die Stelle, wo die Tätowierung am linken Arm gewesen war, tat vor allem abends weh, besonders wenn er lange die Reisetasche auf der linken Seite getragen hatte. Kaum hatte Viktor die Augen geschlossen, schlief er aber, trotz der Schmerzen, sofort ein.
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