Franz Breitenhuber und Viktor Vossler stiegen in einen alten Opel und verließen die Stadt in südlicher Richtung.
„Warn sie scho moi in München gewesen?“, erkundigte sich Breitenhuber und schaltete in den dritten Gang hoch.
Sein Beifahrer war vor ein paar Jahren einmal in München gewesen. Viktor erinnerte sich an die schönen Erlebnisse, wie an die Spaziergänge im Englischen Garten, an die Weißwürste mit süßem Senf, die er mit einer Brezel gegessen hatte, aber auch an die weniger schönen Erlebnisse. Sein Vorgesetzter bei der SS hatte ihn für eine Weile ins Lager nach Dachau geschickt, das nordwestlich der Stadt lag. Das Konzentrationslager Dachau war das erste seiner Art und wurde bereits 1933 errichtet. Es war ein Ausbildungsort für SS-Wachmannschaften und SS-Führungspersonal. Hier hatte er Methoden und Vorgehensweisen gelernt, die er später im Krieg und in Riga angewandt hatte.
Der alte Opel rumpelte über die Straßen. Sie fuhren nicht auf Hauptstraßen, da Breitenhuber befürchtete an Checkpoints der Alliierten gestoppt zu werden. München lag hinter ihnen, und bald waren die Alpen am Horizont zu sehen.
„Da müssen sie rüber“, sagte der Bayer und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die Bergkette.
Viktor wusste nicht wie, denn mit seinem verletzten linken Arm würde die Alpenüberquerung schwierig werden.
„Ich habe eine Kriegsverletzung, die sich wohl entzündet hat, und ich muss dringend zu einem Arzt“, bat er.
Franz Breitenhuber nickte. Stundenlang fuhren sie durchs Alpenvorland. Die Berge türmten sich immer höher vor ihnen auf. Auf den Spitzen lag sogar noch etwas Schnee. Der Fahrer kämpfte sich den ersten Berghang hinauf und folgte der steilen Straße.
Abends kamen sie in einem Bergdorf an und quartierten sich in einem Gasthaus ein.
Breitenhuber konnte einen Arzt auftreiben und kehrte mit diesem zu Vossler zurück.
„Wundbrand, das sieht gar nicht gut aus“, stellte der Doktor fest.
„Ich muss das infizierte Gewebe herausschneiden. Leider habe ich kein Morphium. Das muss reichen,“ sagte der Arzt und drückte Viktor Vossler eine Flasche Schnaps in die Hand.
„Selbst gebrannt von meinem Bruder. Nehmen sie ein paar kräftige Schlucke.“
Widerwillig trank der Patient. Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit war Viktor gezwungen, Alkohol zu trinken, den er sonst verabscheute.
Das Zeug war hochprozentig und benebelte ihn. Nichtsdestotrotz schmerzte es furchtbar, als der Arzt das infizierte Fleisch herausschnitt.
„Verdammt“, schrie Viktor und nahm freiwillig einen weiteren Schluck aus der Flasche.
In der Nacht schlief er unruhig, wachte immer wieder auf, weil sein Arm schmerzte. Hoffentlich würde sich die Wunde nicht ein weiteres Mal infizieren.
Mit müden Gliedern brachen Franz Breitenhuber und Viktor Vossler am nächsten Tag in aller Frühe auf. Sie hatten noch einen weiten Weg vor sich. Sie fuhren den ganzen Tag, nur durch eine Brotzeit unterbrochen.
Die zweite Nacht mussten sie im Wagen schlafen. Mit steifem Nacken und einem Frühstück aus einem Stück Brot und Käse reisten die beiden Männer weiter durch die Berge.
Endlich erreichten sie ein Kloster. Es war einige Jahrhunderte alt und passte sich gut in die Landschaft ein. Es war ein imposantes Gemäuer. Im Zweiten Weltkrieg war das Kloster ein Lazarett gewesen, doch nun waren die verwundeten Soldaten verlegt worden und der Klosteralltag zurückgekehrt. Es war vereinbart, dass Franz Breitenhuber Viktor Vossler bis hierher begleiten würde. Breitenhuber parkte das Fahrzeug vor dem großen Tor.
„Grüßen sie mir unseren gemeinsamen Freund Heinrich von Strelitz, wenn sie ihn einmal wieder sprechen“, verabschiedete sich der Mann. Vossler stieg aus und während er zum Klostereingang ging, brauste der Opel davon.
Vossler zog an einer Kordel, die seitlich des Holztores befestigt war. Ein heller Glockenton erklang darauf hin. Kurze Zeit später öffnete ihm ein hagerer Mönch in einer braunen Kutte das Tor. Viktor Vossler erklärte ihm, er sei aus Deutschland und müsse den Abt in einer wichtigen Angelegenheit sprechen. Der Mönch nickte und führte ihn zuerst in einen Speiseraum.
„Sicher haben sie nach der langen Reise Hunger!“, vermutete er und stellte Vossler wohlwollend eine Schüssel mit Suppe hin, reichte ihm Brot und Vossler aß hungrig.
Später brachte der Mönch ihn zu einer Schlafstube, die karg eingerichtet war: Ein schmales Bett, ein Schränkchen und zwei Haken an der Wand für Kleidung, über der Tür hing ein einfaches Holzkreuz mit der Christusfigur.
Der Mönch benachrichtigte Viktor Vossler, dass Abt Berengar ihn erst morgen empfangen könne.
Er fügte hinzu: „In einer Stunde ist die Vesper, der Abendgottesdienst. Sie können gerne dazu kommen. Danach gibt es ein kaltes Abendbrot.“
Die Vesper besuchte Viktor nicht, denn mit Gottesdiensten, Gebeten und Lobgesängen, konnte er nichts anfangen. Er glaubte an keinen Gott und der gekreuzigte Jesus über der Tür hatte für ihn keinerlei Bedeutung. Zum Abendbrot ging er jedoch schon. Das Gebet, das davor gesprochen wurde, betete er nicht mit. Man konnte nur das Kauen der Essenden und das Klappern des Geschirrs hören. Nach dem Essen verließen die Mönche den Saal und Viktor kehrte zu seiner zugewiesenen Schlafkammer zurück.
Da er die letzte Nacht unbequem in einem Autositz verbracht hatte, freute er sich auf das Bett, auch wenn es schmal war. In der Nacht schlief er gut und in der Morgendämmerung hörte er eine Glocke, die zum ersten Gottesdienst des Tages rief. Er blieb im Bett liegen und genoss es weiter zuschlafen. Später stand Viktor Vossler auf und ging in den großen Saal, wo ein Mittagessen bestehend aus Hülsenfrüchten und Geflügel, aufgetischt war. Danach informierte ihn der hagere Mönch, dass Abt Berengar ihn nun empfangen würde und forderte ihn auf ihm zu folgen.
In Begleitung des Mönchs gelangte Viktor über den Kreuzgang in einen anderen Teil des Klosters. Der Mönch blieb vor einer Tür stehen und klopfte an. Dahinter war ein energisches:
„Soll reinkommen!“, zu vernehmen. Der Mönch öffnete daraufhin die Tür und wies Viktor an, in den Raum zu gehen, er selbst ging nicht hinein.
Viktor Vossler befand sich in einem Raum, in dem ein großer Schreibtisch stand. Dahinter saß Abt Berengar in einem schwarzen Gewand, um seinen Hals hing eine Kette mit einem Kreuz. Er hatte einen grauen Bart, kleine hellblaue Augen und eine etwas zu große Nase.
„Bitte, nehmen sie Platz!“, sagte der Abt freundlich.
Viktor setzte sich auf einen Stuhl. Auf dem Schreibtisch lag eine Bibel mit Goldschnitt und andere in Leder eingebundene Bücher.
An der Wand befand sich ein gerahmtes Foto vom Bischof und ein Kreuz mit der Christusfigur hing ebenfalls dort.
Viktor Vossler schilderte dem Abt sein Anliegen, erwähnte den Standartenführer Heinrich von Strelitz und bat um Unterstützung. Er war selten in der Situation gewesen um etwas zu bitten, aber jetzt schien es ihm ein notwendiges Übel zu sein. Der Abt nickte, stand auf und ging in die Mitte des Raumes. Dort begann er den am Boden liegenden Teppich aufzurollen. Darunter kam eine Falltür zum Vorschein. Der Abt nahm zwei Laternen, die auf einer Kommode standen und zündete sie an. Eine davon reichte er Viktor, die andere behielt er selbst in der Hand und öffnete mit der anderen Hand die Falltür.
„Kommen sie!“, rief er und stieg die steilen Stufen hinunter. Viktor folgte zögernd dem Abt, der bereits einige Kerzen in dem darunter liegenden Raum angezündet hatte und ihn erhellte. Die Männer befanden sich in einem Kellergewölbe, das mit Regalen ausgestattet war. Darauf lagerten Zigarettenschachteln und Schokoladentafeln, Wein- und sogar Champagnerflaschen.
Während des Krieges gab es viele Entbehrungen und nun erschien es Viktor als sei er im Schlaraffenland gelandet. Staunend sah er sich um.
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