„Pass auf“, schrie Sara.
Von Carstheim korrigierte die Fahrspur und um Haaresbreite verfehlte der BMW einen parkenden Wagen. Der Krankenwagen, der ihn zu dem plötzlichen Spurwechsel bewogen hatte, überholte sie mit eingeschalteter Sirene.
„Warum willst du überhaupt ans Steuer, wo du so ein schlechter Autofahrer bist?“, tobte Sara über das Geheul der Sirene. „Selbst das Ersatzrad hat mehr Fahrpraxis als du.“
„Auf wen kann man sich bei einer Revolution schon verlassen? Der Druck der Bevölkerung wird die Politiker aber in der Spur halten. Die Nächste rechts, oder?“, sagte von Carstheim unberührt von Saras Angriff auf seine Fahrkünste.
„Ja rechts.“
„Und da ist es auch schon.“ Weit ausholend und über zwei Spuren bog von Carstheim ab. Das Hotel, auf das er zufuhr, wurde von einem Presseheer belagert.
„Sieht aus wie bei einer Oscar Verleihung.“ Sara machte ein verstecktes Kreuzzeichen. Sie hatte die Fahrt überlebt.
„Die wollen den Ministerpräsidenten sehen. Die Sezession hat Steiger zum wichtigsten Politiker des Landes gemacht.“ Von Carstheim lenkte den BMW in die Auffahrt, die für die geladenen Gäste vorgesehen war.
Zwei Männer in Neonwesten hoben ihre Leuchtstäbe und er trat auf die Bremse. „Was soll das denn?“
„Sie überprüfen das Nummernschild.“
Einer der Leuchtstäbe deutete nun zum Haupteingang. Von Carstheim fuhr holpernd los und hinter einem blauen Hummer hielt er wieder an.
„Auf, zeigen wir uns.“ Von Carstheim stieg aus und umlief den BMW.
Die Reporter, die eben noch in Bewegung waren, erstarrten. Der Mann, für dessen Interview ein jeder von ihnen bereit war seine Seele zu verkaufen, war auf der Geburtstagsfeier des Frankfurter Oberbürgermeisters erschienen. Der Innenminister und der hessische Ministerpräsident waren ebenfalls anwesend. Das würde Schlagzeilen geben und nicht ein Handy blieb unberührt. Die Leitungen liefen heiß. Frankfurt hatte seine Sensation.
Von Carstheim schritt, während die Presse nun ihrer Phantasie freien Lauf ließ, durch den Ballsaal des Hotels. Überall standen weiß eingedeckte Tische und an den Fenstern hingen Gardinen, die mit Szenen aus der Frankfurter Stadtgeschichte bestickt waren. Rechts von der Tanzfläche war ein großzügiges Buffet aufgebaut. Eine Kapelle sorgte für dezente Hintergrundmusik und ein breiter Durchgang führte von der Tanzfläche auf eine ausladende Terrasse.
Als er ihn und Sara kommen sah, unterbrach der Frankfurter Oberbürgermeister Böttcher seine Unterhaltung und beschwingten Schrittes lief er zu ihnen. Vor 12 Monaten war er zum Oberbürgermeister gewählt worden und mit seinen sechsunddreißig Jahren war er noch sehr jung. Die hochverschuldete Finanzmetropole setzte jedoch große Hoffnungen in seine Kreativität.
„Ich fühle mich geehrt, dass Sie meine Feier durch Ihr Erscheinen verschönern, Frau von Carstheim-Schlüchter und Sie haben noch einen Überraschungsgast mitgebracht, Herr Freiherr.“
Böttcher gab Sara einen Handkuss und im Anschluss reichte er von Carstheim die Hand.
„Herzlichen Glückwunsch! Sie sind doch nicht böse, dass ich kein Geschenk habe.“ Von Carstheim fühlte sich leicht.
„Wie könnte ich?“
Dicht trat Böttcher an ihn ran.
„Sie haben mir doch schon ein Geschenk gemacht. Im Gegenzug bring ich Sie zu Ihrem Bruder, der bereits eingetroffen ist.“
„Friedrich ist hier?“
Sara erntete einen überraschten Blick von ihm.
„Ich dachte, es könnte nicht schaden, wenn die von Carstheims in voller Stärke aufmarschieren.“
„Hier entlang“, sagte Böttcher und belustigt stellte von Carstheim fest, dass die Gäste ihn und Sara anstarrten. Erkennbar tuschelten sie über das adlige Geschwisterpaar. Jedes Augenpaar im Saal begleitete sie.
„Adrian“, dröhnte Friedrich, kaum dass er und Sara ihn erreicht hatten. Wie gewohnt strotzte Friedrich vor Vitalität. Er war ein Bilderbuch-Athlet und und als moderner Fünfkämpfer hatte er an zwei Olympischen Spielen teilgenommen. Er knutschte Sara ab und umarmte ihn.
„Euch geht’s gut.“
„Ja doch“, sagte von Carstheim und durch ein Senken der Schultern befreite er sich aus der stählernen Umarmung.
„Was will ich mehr?“
„Wir sprechen uns bestimmt noch“, verabschiedete Böttcher sich nach dieser Demonstration von Geschwisterliebe. Für ihn war es eh noch zu früh, um sich allzu lange in der Nähe der von Carstheims aufzuhalten.
„Steiger ist vor einer halben Stunde eingetroffen“, raunte Friedrich nach Böttchers Abgang.
„Deswegen bin ich gekommen.“
„Der Innenminister ist bei ihm.“
„Könnte lustig werden.“
„Ein erstes Aufeinandertreffen mit dem Feind, das wird die Presse freuen!“
„Sie werden nicht viel mitbekommen.“ Von Carstheim wich einem torkelnden Mann aus. „Ich bin aber auch an der hessischen Stimmung interessiert.“
Von Carstheim hatte wie Friedrich leise gesprochen und dabei den Saal durchforstet. Er war auf der Suche nach Steiger.
„Sind Sie nicht der Verrückte, der Deutschland spalten will?“ Der torkelnde Mann war zwischen einer Schar von Gästen stehen geblieben. Sein Zustand hinderte ihn aber nicht daran, von Carstheim herablassend anzusehen.
„Hey, Herr Freiherr, was meinen Sie, wird der Ministerpräsident morgen in seiner Rede bekanntgeben?“ Die eben noch versteckten Blicke des Umfeldes verwandelten sich in offene Neugierde.
„Die Landesregierung wird unter Steigers Führung eine vernünftige Entscheidung treffen. Steiger wird einen Weg beschreiten, der gut für Hessen und seine Bürger ist. Sie haben nichts zu befürchten“, erwiderte von Carstheim.
„Ich halte die Idee für bescheuert und jedem, der dabei hilft, ist nicht mehr zu helfen.“ Überheblich lachte der Mann über sein Wortspiel.
„Zwei Promille sind auch keine Lösung“, sagte Friedrich.
„Sie habe ich nicht gefragt. Ist sich der Herr Freiherr etwa zu fein, um sich mit mir zu unterhalten?“
Friedrich reichte das. Er wollte sich den Kerl schnappen.
„Du blamierst meinen Vater. Musst du so viel trinken?“ Eine brünette Frau, die zwischen ihn und den Mann getreten war, hielt Friedrich auf. „Er hat zu viel getrunken, nehmen Sie ihm das Gesagte bitte nicht übel“, sagte sie. Ihre dezent geschminkten schwarzen Augen sahen Friedrich traurig an.
„Weißt du nicht, wer das ist? Das ist von Carstheim, der Kerl will Deutschland spalten und keiner hier sagt was“, nuschelte der junge Mann.
„Sie sollten Ihrem Freund beibringen, dass man sich auf solch einer Party nicht sinnlos betrinkt“, sagte Friedrich mit Grabesstimme.
„Verzeihen Sie ihm. Er hat sein zweites Juraexamen zu sehr gefeiert.“ Die Brünette packte den Arm ihres Freundes.
„Wenn Vater das mitbekommt, kannst du die Anstellung in seiner Kanzlei vergessen.“
Die Erinnerung an seinen zukünftigen Job brachte den Jung-Anwalt schlagartig zur Vernunft. Widerstandslos ließ er sich von seiner Freundin abführen.
„Hübsch die Kleine, und dann solch ein Idiot“, sagte Friedrich in die Menge.
„Ich gehe frische Luft schnappen.“ Von Carstheim hatte Steiger entdeckt.
Auf der Terrasse wehte eine steife Brise. Von Carstheim fröstelte und aus dem toten Winkel näherte er sich dem hessischen Landesvater.
„Sie wollten mich sprechen.“ Steiger musste einen Spinnensinn besitzen.
„Ich wollte nur wissen, ob Sie es sich vorstellen könnten, die Volksabstimmung zu unterstützen oder zumindest zu tolerieren?“
„Sie kommen gleich zur Sache.“
„Ich bin kein Freund von Zeitverschwendung.“
„Da haben wir was gemeinsam.“
„Umso leichter sollte es Ihnen fallen, mir eine Antwort zu geben.“
„Gut machen wir es kurz“, sagte Steiger. „Sie können davon ausgehen, dass der Bundeskanzler mir ein gutes Angebot unterbreiten wird, wenn ich mich Deutschland gegenüber loyal verhalte. Außerdem fällt es mir schwer, mich für eine Sache einzusetzen, über die ich so dürftig informiert bin.“
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