Die Gall sitzt mit Silke in irgendeinem Beirat von irgendeiner Charity und nervt, weil sie grundsätzlich zu spät kommt, dann Kusshändchen in die Runde wirft, sich setzt, ihr Schminktäschchen herausholt, sich die Lippen nachzieht und dann verlangt, über das bis dahin Gesagte informiert zu werden. Dass sie von ihrem vormaligen Schützling nichts mehr wissen will, passt in das Bild, das er von ihr hat. Da gibt es zu viele, die Solidarität anderer anmahnen, sich aber zurückhalten, wenn sie selber gefordert werden. Überhaupt diese populären Wieselworte: Solidarität, soziale Gerechtigkeit, das sind doch nur Umschreibungen dafür, dass man bei der allfälligen Umverteilung etwas abkriegen will.
Er darf sich durch das Private nicht länger ablenken lassen und muss Silke beruhigen. „ Ich habe mit Gertrud gesprochen, so wie sie das schildert, erscheint mir die Sache nicht dramatisch.“ „Du hoffst das doch nur und lehnst dich zurück. Man muss aber die Abläufe beherrschen und unter Kontrolle behalten, das war das Prinzip meines Vaters und damit war er erfolgreich.“ „Auch nicht immer, sonst wäre er ja wohl nicht abgewählt worden. Die Zeiten haben sich geändert, nichts bleibt mehr unter der Decke, schon irgendwelche Anfragen von meiner Seite würden nur Schaden anrichten. - Mir kommt da eben eine Idee: Ich habe den Eindruck, dass die Kenianerin ein gutes Verhältnis zu Gertrud hat, aber nicht mehr zu denen, die sie fallen gelassen haben. Die Leute von der International Preschool und diese Gall sollten die Geschichte besser niedriger hängen, sonst werden wir dafür sorgen, dass sie ihnen auf die eigenen Füße fällt: Wo bleibt die Solidarität usw. Mike soll da mal vorsichtig tätig werden.“ „ Ja, immer vorsichtig, das ist so deine Art.“ „Übrigens, ich werde heute abend vermutlich spät kommen, du brauchst nicht auf mich zu warten.“ Das ist so gewöhnlich, dass Silke nicht einmal fragt, warum.
„Kann ich helfen?“ fragt Mike freundlich. „Danke, ich werde auf dich zukommen, wenn es nötig werden sollte. Finde mal was über die Familie Gall heraus, die Frau ist Vorsitzende von so einem Gutmenschenverein Women's Solidarity . Und, was genau bedeutet eigentlich prollig?“ „Proletenhaft, ordinär.“ „So etwas Ähnliches habe ich mir gedacht.“ „Ist natürlich stark abwertend, politisch völlig inkorrekt, musst du kennen, aber nie benutzen.“ „Habe ich mir auch gedacht.“
In der Staatskanzlei angekommen trennen sich Wegner und Richter. Auf Wegners Schreibtisch warten bereits zwei Aktenstapel.. Die Vorlagen zerfallen in mehrere Klassen: Was schon entschieden war und nur noch von ihm unterschrieben werden muss. Auch das überfliegt er zumindest, seine Mitarbeiter sind zwar loyal und würden ihm nichts unterschieben, aber Missverständnisse oder gar Schlampereien kann es schon mal geben. Dann gibt es Entwürfe, manche reif für eine Entscheidung, und andere, an denen noch gearbeitet werden muss. Und Urkunden, die er unterschreiben muss, wie z.B. vor zwei Jahren Annettes Ernennung zur Direktorin der Zahnklinik. Er war froh, da näher hingeschaut zu haben, denn es handelte sich um eine unerfüllt gebliebene Zuneigung aus seinen jungen Jahren.
Es fällt ihm schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Noch beunruhigender als der Angriff auf den Brennpunkt ist es, dass er nichts über die Hintergründe weiß. Die Ermittler unterstehen letztlich dem Justizminister. Stefan Hessler ist ein jüngerer, sehr ehrgeiziger Mann. Wegner hält ihn für sehr begabt, könnte mal sein Nachfolger werden. Er würde für das Vorgehen seiner Justiz schon selber gerade stehen können. Andererseits kann Wegner sich als Ministerpräsident nicht lange heraushalten, ohne den Eindruck von Führungsschwäche zu erwecken. Auf Ahnungslosigkeit kann er keine Strategie bauen.
Endlich kommt Richter. „Ich habe an allen Drähten gezogen, Peter, aber es ist nichts herauszubekommen. Da wurde mit der Begründung laufender Ermittlungen eine absolute Nachrichtensperre verhängt, und die hält bisher. Du müsstest dich wohl selber an Hessler wenden.“ Wegner schwankt, damit würde er das Verfahren an sich ziehen, Er erinnert sich an eine unangenehme Übung aus seiner Dienstzeit: Man musste eine Handgranate scharf machen, und dann noch eine kleine Weile warten, bevor man sie aus der Deckung warf. Hier würde er keine Deckung haben.
Da kommt ein dringender Anruf von Bernhard Portatius, dem Finanzminister, er klingt sehr erregt. „Wer oder was steckt hinter der Aktion gegen den Brennpunkt ? Niemand will mir was sagen, bitte erzähl mir alles, was du weißt. Ich weiß, dass der Brennpunkt nicht gerade zu deiner Lieblingslektüre gehört, zu meiner natürlich auch nicht, aber hier wird die Pressefreiheit berührt, merkt da keiner, dass das gefährlich ist?“ „Hast du mein Gespräch mit der Wüllner gesehen? Mehr kann ich dazu nicht sagen.“ „Genau das macht mir Sorgen, ganz offen, Peter, du kannst da nicht einfach so den Kopf in den Sand stecken. Du hast volle Transparenz versprochen und die musst du liefern.“ „Es geht nicht um die Pressefreiheit, sondern um strafbare Handlungen, immerhin haben die Ermittler einen Richter so weit überzeugt, dass er die Durchsuchungen genehmigt hat.“ „Und die haben offensichtlich nichts gebracht. Hätten die irgend etwas Belastbares gefunden, wäre das doch sicher gleich heraus trompetet worden, um sich vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Peter, als alter Freund gebe ich dir einen Rat: Tritt Hessler in den Hintern, er soll die Ermittler zurückpfeifen, du entschuldigst dich beim Brennpunkt im Namen der Regierung und du wirst sehen: Du stehst prächtig da, als ein Regierungschef, der keine Übergriffe duldet.“
Während Portatius Druck auf ihn ausübt, verschwinden die letzten Zweifel Wegners. Er wird, zumindest bis auf weiteres, nichts unternehmen. Bernhard Portatius mochte einmal sein Freund gewesen sein, inzwischen ist er aber nur noch Parteifreund. In den Augen Wegners ist er ein Intrigant. Meist ein erfolgloser, glücklicherweise, aber einmal hatte er Wegner getroffen und das ausgerechnet im Zusammenspiel mit dem Brennpunkt. Die Freundschaftsbekundungen verstärken eher Wegners Misstrauen, Portatius denkt nie an die Regierung oder die Partei oder gar an Andere und das Gemeinwohl, sondern nur an sich selbst. Er sorgt sich nicht um die Pressefreiheit und das Ansehen der Regierung. Er muss einen wichtigen Grund haben, die Ermittlungen gegen den Brennpunkt abzuwürgen, und zwar so, dass Wegner als Ministerpräsident eingreift, während er im Hintergrund bleibt.
Von Klex, dem Chef des Brennpunkts , wird glaubwürdig berichtet, er habe einmal in Sektlaune behauptet, er könne jeden Politiker aufbauen oder zu Fall bringen. Das sei so, als ob er im Fahrstuhl den Knopf nach oben oder den nach unten drücken würde. Für Portatius hatte er schon öfter aufwärts gedrückt, er war immerhin Finanzminister geworden. Für Wegner war einmal abwärts gedrückt worden, aber das hatte er überlebt. Zweifelsohne gibt es offene Rechnungen, die Portatius begleichen muss. Selber will er keine Spuren hinterlassen, also drängt er ihn, Wegner, einzugreifen. Ist das nicht eher ein Hinweis, dass der Brennpunkt wirklich etwas zu verbergen hat?
Wegner führt in seinem Kopf ein Buch mit noch offenen Posten. Da gibt es sowohl die ihm erwiesenen Wohltaten wie die von ihm erlittenen Gemeinheiten. Der Brennpunkt war vor langer Zeit gemein zu ihm gewesen und er ist sich sicher, dass Portatius der Helfer, wenn nicht gar der Anstifter gewesen war. Sie waren beide ehrgeizig gewesen und hatten um Ämter in ihrer Partei gekämpft. Da bieten sich friedliche Lösungen an, indem sich einer auf die Landespolitik wirft und der andere auf die Bundes- oder Kommunalpolitik. Aber so war es bei ihnen nicht gelaufen, sie standen einander auf Landesebene im Wege.
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