Cesare ist erschüttert von diesem Geständnis seines Sohnes. Mehr als die Tatsache beim Kartenspiel verloren zu haben, irritierte ihn das Verhalten von Alessandro, der mit einer gewissen Lässigkeit erzählte. Auch auf die Frage, warum er denn die Zahlungsfrist nicht eingehalten habe, kommt eigentlich nur ein Schulterzucken und die lapidare Aussage, er brauche nicht zahlen, Spielschulden könnten nicht vor Gericht eingeklagt werden. Das ist nun aber zu viel für Cesare. Diese Naivität muss er erst einmal wegstecken. „Alessandro, jetzt hör mir mal ganz genau zu.
„Spielschulden sind Ehrenschulden und wiegen schwerer als normale Zahlungsrückstände. Natürlich hast du mit deiner juristischen Einschätzung vollkommen Recht. Darum geht es aber gar nicht. Hast du dir schon einmal überlegt, dass beim Glücksspiel die Karten manipuliert sind und so naive Zeitgenossen, wie du einer offensichtlich bist, zunächst mit kleineren Gewinnen angefüttert und dann am Schluss abgezockt werden? Die Mafia betreibt diese Spelunken und es ist nicht unbedingt ratsam, sich mit solchen Leuten anzulegen. Die haben ihre Methoden, an ihr Geld zu kommen. Gibt es dir gar nicht zu denken, dass ich heute in dieser Sache Besuch bekommen habe? Dein und somit mein Name sind in der Stadt bekannt, und es ist ein Leichtes, dir oder mir zu schaden. Juristisch läuft da nichts, keine Sorge, aber wenn sie dir die Finger an beiden Händen brechen oder bei mir die Scheiben des Ladens einwerfen, dann werden wir schon irgendwann weichgekocht sein und zahlen. Wohlgemerkt mit Zinsen und Zinseszinsen. Von den Auslagen der ehrenwerten Herren ganz zu schweigen.“
Alessandro ist blass im Gesicht geworden, seine jugendliche Bräune ist der Farbe eines ausgewaschenen Leintuchs gewichen. In seinem Stuhl immer er, bei den in kurzen Sätzen ihm von seinem Vater an den Kopf geschleuderten Worten, immer kleiner geworden. So hat er die Angelegenheit noch nicht gesehen. Nur, was sollte er jetzt noch machen? Da hilft nur die Flucht nach vorn und kleinlaut seinem Vater beipflichten und um seine Hilfe bitten. Vielleicht ist ja noch nicht alles verloren.
„Wenn du mir das Geld vorstreckst, damit ich den Schuldschein auslöse, dann ist doch alles wieder in Ordnung!“ Alessandro sieht fragend zu seinem Vater und erhoffte dessen positive Rückantwort, damit er diesen Schlamassel unbeschadet überstehen könne. Cesare überlegt, bevor er antwortet. „Ganz so einfach ist die Angelegenheit nicht, wie du meinst. Die Schuld ist bereits von anderer Seite beglichen, ich kann nicht so einfach das Geld von der Bank holen und den Schuldschein damit zurück kaufen. Dafür ist es schon zu spät.“
Alessandro ist wie vor den Kopf gestoßen. Er hörte die Worte laut und deutlich, aber der Sinn des Gesagten will ihm nicht verständlich werden. Cesare redet weiter: „Die Summe ist beglichen, bezahlt ist sie aber noch nicht. Zu gegebener Zeit wird mein Besucher darauf zurückkommen und dann wird erst abgerechnet. Das wirst du nicht ganz verstehen, ist aber die Realität“. Alessandro begriff nicht, was sein Vater anzudeuten versuchte. Die Tragweite der Worte rauscht an ihm vorbei. Benommen sitzt er da, unfähig sich zu rühren, aufzustehen oder auch nur sich für seine Dummheit bei seinem Vater zu entschuldigen.
Die erste gemeinsame deutsch-amerikanische Projektsitzung ist zu Ende. Es ist Freitagnachmittag kurz nach 16 Uhr und Roger ist froh, dass er sein Hotelzimmer noch einen Tag länger zur Verfügung hat. Nach der Verabschiedung der amerikanischen Gäste, die am Abend noch den Rückflug in die Staaten vom Münchner Flughafen aus antreten, hat sich die Zusammenkunft schnell aufgelöst. Auch die verbliebenen Teilnehmer haben nach dem anstrengenden Meeting keine große Lust mehr zu vertiefenden Gesprächen. Das hat Zeit bis zum Montag. Jetzt ist Wochenende angesagt und jeder schaute zu, dass er schnellstmöglich zu seinem Auto kommt. Ein letztes Tschüss über den Parkplatz zu einem Kollegen und ab geht´s nach Hause zur Familie oder zu sonst Jemanden, der auf einen wartet.
Roger sieht zu, dass auch er von der Bildfläche verschwindet. Eiligen Schrittes durchschreitet er die Lobby des Hotels. Mit dem Lift in den 5. Stock und ohne weiteren Zwischenstopp die Zimmertür von innen zumachen, das ist sein vorrangiges Ziel. Nach dem anstrengenden gestrigen Abend und einigen „Absackern“ in der Hotelbar ist er froh, sich für einige Stunden ausruhen zu können. Noch ein kurzer Anruf bei der Rezeption, damit er um 18.30 Uhr geweckt wird.
Das Lokal „Zur grünen Aue“ liegt in einem Vorort von München. Der Stadtteil Feldmoching ist ihm bis dato total unbekannt. Nie dagewesen. Ohne Navigationsgerät hätte er nicht gewusst, wie er diesen Ort überhaupt erreichen kann. Roger entledigt sich seiner Kleidung, stellt sich unter die Dusche und lässt eiskaltes Wasser über seinen vom vielen Sitzen schlaffen Körper hinunterlaufen. Der erste Schock löst sich beim abtrocknen und weicht einer erfrischenden Wärme, einem angenehmen Wohlbehagen. Noch nicht richtig zugedeckt, da ist er auch schon eingeschlafen.
Das schrille Klingeln des Telefons beendete abrupt die Traumphase. Roger braucht erst einige Momente, um sich zurechtzufinden und vor allem das lästige Telefon in dem fremden Hotelzimmer zu finden. Er nimmt den Anruf der Rezeption entgegen und bedankt sich bei der freundlichen Stimme für den Weckrufservice. Um richtig wach zu werden, hilft nur eine erneute kalte Dusche. Als er den Mischhebel voll in den blauen Bereich dreht, schießt schlagartig ein Schwall eiskalten Wassers auf seinen Körper nieder. Diese Radikalkur ist nicht immer sein bestes Rezept um wach zu werden, heute aber wirkt es wahre Wunder. Nach dem Trockenreiben fühlt sich Roger wieder topfit. Unterwegs will er vielleicht noch eine Kleinigkeit essen, um dann das Klassentreffen zu besuchen. Große Erwartungen hat er nicht. Mal sehen, was sich da ergibt. Falls die ganze Sache sich als Flop erweist, will er sich schnellstmöglich verdrücken und den Abend anderswo ausklingen lassen. Nun ja, ein Versuch ist es immerhin wert.
In der Tiefgarage angelangt, tippt er die Adresse des Treffpunktes in das Navigationsgerät ein und fährt vorsichtig rückwärts aus der engen Parkbucht. Auf dem Mittleren Ring geht es zunächst einige Kilometer entlang. Dann lotst ihn das Navi auf eine kleinere Straße und führte ihn ohne Schwierigkeiten zu seinem angegebenen Ziel. Roger hatte sich keine Gedanken über die Entfernung zur Gaststätte gemacht und ist überrascht, dass er recht zügig durch den Innenstadtbereich von München kommt. Rund eine halbe Stunde vor Beginn des Klassentreffens erreicht er den Parkplatz in Feldmoching. Bei seiner Ankunft ist noch nicht viel los. Soll er schon reingehen oder besser noch abwarten? Lieber bleibt er noch etwas in seinem Audi A 6 sitzen und beobachtet die Umgebung. Er staunt nicht schlecht. In Autobahnnähe ist hier ein Freizeitzentrum auf der grünen Wiese hochgezogen worden. Es scheint an nichts zu fehlen. Und nach den Werbetafeln und Hinweisschildern zu schließen, gibt es neben einem original bayerischen Speiselokal, Biergarten inklusive, auch zwei Discos.
Nun wird es aber Zeit, aus dem Radio kommt die monotone Ansage, wonach es zwanzig Uhr mit dem letzten Ton des Signals sei und die Nachrichten gesendet werden.
Als sich Roger im Lokal umschaut, findet er zunächst keinen Hinweis auf ein Nebenzimmer für die Teilnehmer des Klassentreffens. Seine Suche wird abgekürzt, als eine der unzähligen Kellnerinnen auf ihn zu rauscht und schon mit einem Abstand von drei bis vier Schritten laut durch den Raum fragt: „Zum Abitreffen?“ Die Antwort auf ihre selbst gestellte Frage schickt sie ohne Luft zu holen gleich hinterher. „Treppe runter und gerade aus!“
Roger folgt dem angezeigten Weg und sieht unter dem Hinweisschild zur Toilette auf dem Treppenabsatz einen roten Pfeil auf den mit schwarzem Filzstift dick das Wort Abiturtreffen angeschrieben ist. Sinnigerweise darunter mit kleineren Druckbuchstaben vermerkt „Geschlossene Gesellschaft“. Dies ist wohl zur Abschreckung gedacht und soll die nostalgische Zusammenkunft vor neugierigen Blicken der WC-Benutzer schützen. Nach einem kurzen Zögern öffnet Roger beherzt die abgetönte gelblich schimmernde Glastür, holt tief Luft und fühlt sich mit einem Schlag in die Zeit des Endes der ehemals so verhassten Schule zurück katapultiert.
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