Schon sein Vater pflegte immer den Spruch, wonach Lehrjahre beileibe keine Herrenjahre seien, bei jeder passenden Gelegenheit von sich zu geben. Diskussionen über die Ausführung von Aufträgen und seien es noch so kleine Änderungen oder Ausbesserungen an getragenen Kleidungsstücken gab es in der kleinen Schneiderei seiner Jugendjahre niemals. Es herrschte ein streng hierarchisch gegliedertes Regiment des Patrons vom Altgesellen bis runter zum kleinsten Lehrjungen. Da gab es keine Ausnahmen, für ihn als Mitglied der Familie schon gar nicht. Der Kunde bestellt, hat Recht und bezahlt, so einfach war das System. Dies hatte Bestand und damit basta - Ende der Debatte. Die markanten väterlichen Aussprüche, hatten sich durch immerwährende Wiederholungen in das Gehirn von Cesare eingebrannt. Wenn auch nicht ständig auf seinen Lippen, waren sie doch zumindest auch in seinem Geiste.
Seit seiner Ausbildung im elterlichen Betrieb hat sich viel verändert. Damals war es für ihn als Sohn des Ladenbesitzers in der Anfangszeit nicht einfach, sich gegen die alten Schneidergesellen und deren Vorurteilen gegen das Jüngelchen vom Chef durchzusetzen. Da genügte es nicht, sich mit Pfiffigkeit und einem schnellen Mundwerk zu behaupten. Nur das Handwerk und dessen tadellose meisterliche Ausführung gaben am Ende den Ausschlag über Erfolg und Anerkennung im Leben, davon ist Cesare Monti immer überzeugt gewesen und nach dieser Maxime hat er sein ganzes Handeln und Streben bis heute ausgerichtet. Er ist erfolgreich und bei seinen Konkurrenten, die größtenteils auch gute Bekannte, wenn nicht gar Freunde sind, im Laufe der vielen Jahre seiner Berufstätigkeit inzwischen anerkannt und geachtet.
Im Grunde hat Cesare zwei Handwerke erlernt. Neben seinem Geschäft im Zentrum von Mailand ist er in Fachkreisen ein gesuchter Ansprechpartner für spezielle Aufträge, deren Ausführung er in ebensolcher Perfektion wie seine Hauptbeschäftigung erledigte. Gewiss, es hat einfach seinen Preis, bei ihm einen Anzug ebenso wie seine besondere Dienstleistung zu bestellen.
Das Ladenlokal in einer der kleinen Nebenstraßen nahe dem Hauptplatz und dem imposanten Mailänder Dom zeigte gediegene aus dem vergangenen Jahrhundert gerettete Einrichtungsgegenstände, die dem flüchtigen Blick eines vorüber hastenden Passanten eher unscheinbar vorkamen. Ein Kenner jedoch sieht sofort, um welche qualitätsvollen Waren es sich in der Auslage der beiden Schaufenster handelte. Nicht erst der Blick auf die kleinen Preisauszeichnungen, die sofern sie überhaupt zu sehen waren, macht deutlich, dass hier Männer von Welt ihre Anzüge anfertigen lassen. Oft diente der hohe Preis der Waren aber auch allein dem Zweck, die Laufkundschaft aus dem Laden fern zu halten.
Das Modeatelier Monti & Monti bediente eine über Jahrzehnte gewachsene Stammkundschaft, die sowohl die Qualität als auch das Ambiente des Geschäftes zu schätzen weiß. Gut betuchte Kunden werden aber nicht davon abgehalten, sich hier neu einzukleiden, - natürlich sofern sie über die nötigen finanziellen Mittel verfügen. Für Cesare Monti ist es kein Bruch mit der Tradition und seiner Geschäftsauffassung, wenn ein Kunde von außerhalb in seinen Laden kommt und mit dem Kauf eines teuren Anzuges für Umsatz sorgte. Das Geschäft hat immer Vorrang, das war ein Prinzip seines Handelns.
Sofern es sich um besagte Stammkunden handelte, ist Cesare Monti, persönlich bei den Verkaufsgesprächen anwesend. In seinem Laden ist es nicht üblich, schnell einen Anzug oder ein schickes Jackett sozusagen direkt von der Stange anzuprobieren und am besten das neuerworbene Kleidungsstück gleich anzubehalten. Nein, hier ist das Gespräch über Wunsch und Anlass hinsichtlich des zu erteilenden Auftrages ein wichtiger Bestandteil des Geschäftsbesuches. Als besondere Ehre gilt es hingegen, in den Genuss einer durchgängigen Beratung durch den Firmenpatron Cesare Monti zu gelangen. Dieses Privileg ist nur besonderen Stammkunden vorbehalten.
Ausnahmen von dieser Regel macht er bei Freunden aus der näheren Umgebung des Wohnviertels, die Cesare schon seit Übernahme des Geschäftes kennt und die ihm von Anfang an die Treue gehalten haben. Denn seine Wurzeln und seine Herkunft hat Cesare in all den Jahren niemals verleugnet. In der schweren Zeit nach dem Krieg ist er um jeden Kunden froh gewesen. Damals war sein Geschäft noch nicht so bekannt und er hielt sich oft mit kleinen Aufträgen über Wasser. Nur so konnte er seine Familie damals ernähren. Cesare war sich für keine Arbeit zu schade, wenn sie nur ein paar Lire einbrachte.
Bei einer dieser Gelegenheiten hat er auch andere Geschäftspartner kennengelernt, die ihm eine zweite im Verborgenen ausgeübte Tätigkeit anboten. Aber auch hier hat er sich zunächst bescheiden müssen und klein angefangen, um das Vertrauen seiner Auftraggeber zu gewinnen, bevor er zu dem aufgestiegen ist, was er heute in diesem Metier darstellt.
Für die Betreuung der Kundschaft sind die angestellten Mitarbeiter des Hauses verantwortlich. Und das Herzstück des Unternehmens ist seit je her der Bereich der Fabrikation. Der Anspruch des Hauses ist eben sehr hoch und alle Mitglieder der Firma sehen es als besondere Ehre an, hier arbeiten zu dürfen. Stolz, nicht Überheblichkeit, drückte sich im Zusammenwirken aller Mitarbeiter zu einem Ganzen aus, wobei die strenge Aufteilung der Machtbefugnisse mit einer klaren Aufgabenzuordnung einhergeht. Jeder Mitarbeiter kennt seine Aufgabe und ist sich seiner Grenzen jederzeit bewusst. Infrage gestellt wurde dieses Prinzip der Herrenausstatter Monti & Monti, gegründet im Jahre 1919 mit Firmensitz in Mailand, niemals. Über allem steht das Wort des Patrons Cesare Monti. Dieser erwartete vollen Einsatz seiner Arbeiter und sieht sich im Gegenzug für deren Wohlergehen in besonderem Maße verantwortlich.
Nach einer arbeitsreichen Woche ist für Cesare der Sonntag ein ganz besonderer Tag. In der gepflegten und großzügig möblierten Etagenwohnung, direkt über seinem Ladenlokal, scheint sich trotz der weit geöffneten Fenster kein Luftzug zu bewegen. Es gibt nicht die erhoffte Abkühlung in den frühen Morgenstunden. Schon beim Kirchgang, der unbedingt zu einem Sonntag gehörte, machte ihm die warme, ja schon fast heiße Temperatur zu schaffen. Dabei ist es erst 10 Uhr und noch einiges an diesem Tag zu erwarten.
Nach dem Ende des Gottesdienstes halten sich die Freunde und Bekannte nicht so wie sonst üblich nach der Messe auf dem großen Vorplatz ein wenig zum Plaudern und Schwadronieren auf. Schnell suchen alle das Weite und der Kirchplatz ist im Nu verwaist und leer. Cesare suchte mit seiner Frau die noch im Schatten liegende Straßenseite auf und machte sich auf den Heimweg, um zu seinem vermeintlich kühlen Haus zu gelangen. Wohl dem, der eine Wohnung sein Eigen nennen kann, bei der die dicken Wände für Kühlung sorgten. Doch nun Mitte August ist auch dieser Schutz schon längst aufgebraucht.
Genau so ist es an diesem heutigen Sonntag. Als das Ehepaar, Serafina und Cesare Monti, die Wohnungstür öffnet, strömte ihnen nach ihrem kurzen Fußweg ein Schwall warmer Luft entgegen. Cesare ist die körperliche Anstrengung nicht gewohnt, normalerweise pflegte er im dunklen Zweireiher mit Weste in die Kirche Santa Maddalena mit seiner Frau zur Messe zu gehen. Doch heute ist der helle leichte Sommeranzug schon fast zu viel. Zu seinem Standesbewusstsein gehörte es freilich, ordentlich gekleidet in die Kirche zu gehen. Von diesem Prinzip weicht er niemals ab. Hitze hin, Hitze her, da gibt es keine Ausnahme.
Als sie nach dem anstrengenden Hochamt aus der Kirche Santa Maddalena zurück in ihre Wohnung kommen und sich Cesare durch die Lockerung seiner Krawatte Luft verschaffte, hörte er auf dem Flur schon die Streitereien seiner beiden Kinder. Gerade dafür hat er heute keinen Nerv und als dann Serafina die Tochter auch noch zur Mithilfe in der Küche verdonnerte, da hängt der Haussegen schon bedenklich schief. Die aus der Küche bruchstückhaft zu hörenden Halbsätze beziehen sich, wie kann es denn auch anders sein, auf das bevorstehende Mittagessen.
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