Cesare will es sich gerade in seinem angestammten Lieblingssessel gemütlich machen, als die Tür zu seinem kleinen Herrensalon mit einem energischen Herunterdrücken der Türklinke geöffnet wird. "Cesare, ich werde in diesem Haushalt noch verrückt", eröffnete seine Frau das einseitige Gespräch. "Unsere Köchin ist nun wirklich zu alt und hört nicht auf das, was ich ihr auftrage. Du musst ihr unbedingt ins Gewissen reden." Cesare versteht die ganze Aufregung nicht und ist sich nicht einmal sicher, um was es sich bei dem ganzen Gezerre eigentlich handelte. In Gedanken ist er mit anderen Dingen beschäftigt. Abwesend gibt er seiner Frau Recht.
Nachdem er wieder allein in seinem Zimmer ist, grübelte er weiter. Als Herr des Hauses, auch wenn ihn seine Kinder sicher nicht als unumstößliche Autorität ansehen, machte er sich ernsthafte Gedanken über die Zukunft im Allgemeinen und auch im Besonderen. Gesundheitlich ist er nicht ganz auf der Höhe. Viel lieber, als einen Arzt aufzusuchen, horcht er in sich hinein und stellte wenig plausible Diagnosen für sich selbst. Sicher ist sein Unwohlsein nur vorübergehend und vor allem auf die Wetterkapriolen zurückzuführen. Wenn die Hitzewelle in ein paar Tagen vorbei ist, ginge es ihm ja wieder besser. Also kein Grund zur Besorgnis.
Cesares Gedanken kreisen immer wieder um ein Kernthema. Sicher wirtschaftlich geht es ihnen allen gut; finanzielle Sorgen haben sie nicht. Und die allgemeine politische Lage, die Staatsmisere ist bedrückend, aber das ist ja nichts Neues. Cesare gefiel sich, wenn er so vor sich hin politischen Unsinn verzapfte. Echte Sorgen machte er sich aber doch um die Firma. Hier treibt ihn die Frage der Nachfolgeregelung um. Aus seinen beiden Kindern ist er noch nicht so recht schlau geworden. Sein Sohn Alessandro studierte seit Jahren und ist doch von einem Abschluss in Betriebswirtschaft weiter entfernt denn je. Carmen hingegen, seine Tochter, ist da schon aus einem ganz anderen Holz geschnitzt. Sie steht kurz vor ihrem Examen auf der Dolmetscherschule und spricht heute vier Sprachen fließend. Sie weiß, vorauf es im Leben ankommt. Aber seine Tochter als mögliche Nachfolgerin findet Cesare dann doch etwas zu gewagt. Er schmunzelte verschmitzt, als er sich vorstellte, dass einer seiner Stammkunden in Unterhosen auf spindeldürren Beinen beim Anmessen eines neuen Anzuges vor seiner Tochter steht. Bei seinen beiden Kindern hatte er diese heikle Frage noch nicht zur Sprache gebracht. Im Grunde hat er auch noch etwas Zeit. Abtreten will er ja noch lange nicht.
So ist Cesare intensiv mit sich selbst beschäftigt, als sich leise nach einem kaum hörbaren Anklopfen die Tür einen Spalt öffnete und Carmen Einlass begehrte. „Papa, in fünf Minuten gibt es Mittagessen.“ "Entschuldige Carmen, ich bin total in Gedanken vertieft, was hast du gesagt?“ Carmen nutzte die Gelegenheit, um den Vater auf ein für sie wichtiges Thema anzusprechen. „Papa, du weißt doch in der nächsten Woche steht die letzte mündliche Prüfung bei mir an. Das Examen habe ich schon so gut wie sicher in der Tasche. Aber zur Diplomfeier habe ich nichts Hübsches anzuziehen. Nichts passt mir mehr, aus allem bin ich herausgewachsen, ich sehe so schrecklich aus! Am besten gehe ich gar nicht zur Abschlussfeier, da blamiere ich mich nur. Ich bleibe einfach daheim.“ Das dabei zur Schau getragene kindliche Schmollgesicht verfehlte keineswegs seine Wirkung beim Herrn Papa.
Als Cesare sie nun ansieht, wird Carmen rot im Gesicht. Schlagartig wird ihr bewusst, dass sie gerade einen taktischen Fehler begangen hatte. Einem Schneidermeister mit dem Argument zu kommen, kein Kleid passe mehr, das war wirklich unklug. Cesare ist zwar Herrenausstatter, aber den Blick auf weibliche Formen hat er nicht verlernt. Vater und Tochter sehen sich in die Augen und müssen, ob der komischen Situation, lachen.
"Carmen, du weißt ich bin stolz auf dich und freue mich für dich, dass du den Studienabschluss in Kürze hast. Eine Belohnung steht da natürlich für mich außer Frage. Gleich morgen telefoniere ich mit Bertone, du weißt schon, der vom großen Kaufhaus an der Plazza de Medici, bei dem habe ich noch etwas gut."
Dies ist nicht unbedingt im Sinne von Carmen, aber da sie nicht auf den Mund gefallen ist, sagte sie forsch zu ihrem Vater: "Ich habe schon etwas Passendes in einer kleinen Boutique ganz in der Nähe gefunden. Ich lass dir einfach die Rechnung zuschicken. Das wäre doch am einfachsten.“ Schnell ist Carmen an der Tür und im Hinausgehen erinnert sie sich noch an den eigentlichen Grund ihres Kurzbesuches. "Papa, das Mittagessen steht auf dem Tisch, kommst du?"
Die beiden Termine am nächsten Tag machen ihm keine großen Sorgen, doch gehen sie ihm auch nicht aus dem Kopf. Das Mittagessen mit seinem Bruder ist sicherlich wieder so langweilig wie immer. Der zweite Termin ist telefonisch vom Privatsekretär seines alten Freundes und Geschäftspartners Emilio Sargese avisiert worden. Hier ist Cesare über den möglichen Grund des Treffens irritiert und verunsichert. Bisher war er immer zu Emilio in dessen Kanzlei gebeten worden. Warum es dieses Mal anders sein sollte, kann sich Cesare zunächst nicht erklären. Er ist beunruhigt und versuchte sich, einen Reim darauf zu machen.
Lange betrachtet er den Briefumschlag. Unschlüssig hält er ihn in der Hand. Warum hat er ihn eigentlich nicht gleich weggeworfen? Auf den ersten Blick sieht das beige Kuvert aus, als sei es ein Liebesbrief. Als Absender steht da lediglich der Name: „Gabi“ und sonst nichts. Jan-Gustav drehte die Briefhülle wieder um und starrte auf das Schriftbild der Adresse. Langsam wird ihm bewusst, was ihm an diesem Brief gefällt. Es ist das Gesamtbild. Die Handschrift von Gabi ist geschwungen und schnörkelhaft. Der Poststempel mit einer Werbebotschaft für das bevorstehende Oktoberfest in München prägte das Bild. Es handelte sich um eine Einladung zum ersten Klassentreffen, nachdem das Abitur nunmehr zehn Jahre zurückliegt. In Gedanken rechnete Jan-Gustav nach. Es stimmte, lange her. Dunkel erinnerte er sich daran, wer die Briefschreiberin sein könnte. Aber so genau kann er Gabi nicht mehr zuordnen. Er hat kein Bild vor Augen, zu lange her.
Die Einladung ist im eigentlichen Sinne kein richtiger Brief, vielmehr handelte es sich um eine fotokopierte Einladung zum Treffen in einer Gastwirtschaft mit Hinterzimmer irgendwo in einem Stadtteil von München. Ob er hingehen soll? Bis zum Termin hat es ja noch etwas Zeit. Vielleicht wird es lustig, die alten Kumpels mal wieder zu sehen. Vielleicht ist es aber auch nur eine versponnene Idee um an die guten alten Zeiten zu denken. Jan-Gustav legte das Einladungsschreiben zur Seite und widmete sich seinen beruflichen Aufgaben. Nach seinem Studium als Kunsthistoriker ist Jan-Gustav in das elterliche Auktionshaus als Juniorpartner eingetreten. Er ist zwar nicht der Erstgeborene, hat aber seinen eigenen Arbeitsbereich und kann sich seiner Vorliebe, der Kunst des Mittelalters, ungehindert widmen. Er lebt für die Kunst. Es ist ihm aber auch klar, dass er immer in der Rolle des stillen Teilhabers bleiben wird, auch wenn seine Eltern einmal die Geschäftsleitung abgeben. Sein Bruder Johannes-Gabriel ist unbestritten der bessere Mann für das Geschäft. Letzteres ist hierbei sogar wörtlich zu verstehen.
Im Gegensatz zu ihm ist sein älterer Bruder nicht nur, was den möglichen Profit ausmachte, ein ausgebuffter Kaufmann, er verfügte auch über ein spezielles Gespür in der Beurteilung von Bildern und anderen Kunstgegenständen. Johannes-Gabriel sieht schon im Moment des Erstgespräches die Chancen für die spätere Verwertung eines Kunstobjektes. Die Eltern sind stolz auf ihren erstgeborenen Sohn. In ihm aber sehen sie eher einen nützlichen Idioten, der für vieles zu gebrauchen war. Die wirklich großen Auktionserfolge laufen aber in Regie seiner Mutter und eben unter Mithilfe von Johannes-Gabriel über die Bühne.
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