Sakine schnappte sich ein Kopfkissen und rannte ihr hinterher. »Pass auf, wenn ich dich erwische!«
Rya verschwand schnell im Bad, verschloss die Tür hinter sich und lachte. Sakine war dreizehn Jahre alt und ihre Schwester Rya gerade erst elf Jahre alt geworden.
Die Ältere klopfte energisch an der Tür, bis Rya sie widerwillig öffnete. Beide putzten sich rasch die Zähne und wuschen ihre Gesichter, doch für eine gründliche Reinigung war keine Zeit. Sakine drängte ihre kleine Schwester nach unten, denn die Mutter rief zum widerholten Mal zum Frühstück.
Als sie im Garten den Tisch deckten, zischte Rya ihrer Schwester zu: »Du bist manchmal schlimmer als unsere Mutter. Alles muss bei dir seine Ordnung und seinen Platz haben. Total altmodisch!«
»Haben wir nicht einen zauberhaften Garten?«, lenkte Sakine ab, da sie zu müde zum Streiten war. »Die stolzen Orchideen und der reine, weiße Costus. Wie findest du eigentlich die Sharonblumen? Und die Heidelbeersträucher. Wollen wir nicht ein paar Beeren zum Frühstück pflücken? Das wäre sicher eine schöne Überraschung.«
Rya stemmte die Hände in die Hüften und stöhnte: »Erst hetzt du mich – und dann aber Beeren pflücken wollen.«
»Du hast Recht«, lächelte Sakine und streckte ihrer kleinen Schwester zur Versöhnung eine Tasse Tee entgegen.
Herr Zafar, ein kleiner, runder Mann, saß bereits am Tisch und hatte sich neugierig in seine Zeitung vertieft. Im Tageslicht glänzten einige graue Härchen auf seinem Kopf.
»Deron, bitte, zieh dir doch Schuhe an, sonst erkältest du dich noch!«, rief Frau Zafar besorgt über die Schulter, als sie gerade mehrere Körbe voller Essen hinaustrug. Ryas Bruder Deron fütterte gerade die Fische im Teich.
»Gleich!«, erwiderte dieser genervt, ließ sich jedoch nicht von den wild zappelnden Flossen der Wassertiere ablenken.
Der Garten war eine paradiesische Oase, eingezirkelt durch einen kleinen Bach, der in einem Teich mündete. In diesem schwammen Schleierschwanzgoldfische flink unter der glasklaren Oberfläche herum.
Lotosblüten, gelbe Alamandas und Geranien blühten in voller Pracht und warfen dunkle Schatten auf das Wasser, ebenso wie die Zitronen- und Kirschbäume, die entlang des Bachs wuchsen.
Ryas Vater hatte sich viele Blumen und Kräuter aus dem Ausland schicken lassen, die nun in voller Pracht gediehen und dem Garten etwas Meditatives gaben.
Das leise Plätschern des Wassers und die bunten Blumen verscheuchten alle Sorgen. Besonders bei den Tageswenden, wenn der Garten zu magischem Leben erwachte. Wenn die Vögel die Sonne besangen, oder die Grillen in die Nacht hinein konzertierten.
All dies wurde nur ermöglicht durch Ryas Großmutter, die ebenfalls im Haus ihrer Kinder lebte und sich mit Liebe und Sorgfalt um die Pflanzen kümmerte.
»Rya, mein Kind, könntest du bitte …« Die Mädchen waren gerade dabei gewesen, über die sattgrüne Wiese zu jagen, als Herr Zafars Stimme sie einheitlich inne halten ließ. Sein aufmerksamer Blick linste über den Rand der Zeitung hinweg und sofort nickte Rya und erwiderte: »Gerne doch, Vater.«
Schnell eilte sie nach oben in ihr Zimmer, öffnete das Fenster ganz weit und schaltete anschließend den Plattenspieler ein, bis die Musik hinunter in den Garten drang. Ihr Vater liebte es, wenn der leichte Klang der Flöte, begleitet von Laute und Tamburin, wie eine sehnsüchtige Wüstenkarawane vorbeischwebte.
Die orientalischen Klänge erinnerten ihn an eine verschleierte, geheimnisvolle Frau, deren Augen zaghaft durch die Tücher blickten, von einer unbekannten Sehnsucht singend. Der Wind versuchte, ihren Schleier an sich zu reißen und zu lüften.
Die Musik erinnerte ihn an einen durstigen Leoparden, der, aus dem Morgenschlaf gerissen, mit stolzem Gang zum Wasser einer vergessenen Oase schlich, wo er sein Spiegelbild im Wasser betrachtete.
Die Musik klang nach Freiheit.
Ein ganzer Monat war vergangen und Rya hatte während der Fastenzeit keine Musik gehört.
Die Eltern waren stolz auf ihre Kinder. Herr Zafars Ehefrau Yasmin sammelte Geld für die Armen, sorgte sich um den Haushalt und für ein gemütliches Zuhause. Es war wichtig, ein Teil der Gesellschaft zu sein und sich so zu verhalten, wie es Tradition war. Darauf achtete Herr Zafar streng. Frau Zafar traf sich einmal die Woche mit Freundinnen, mit denen sie bis zum Sonnenuntergang stickte, kochte und plauschte. Die anderen Tage der Woche verbrachte sie Zuhause bei der Familie.
Ihr Gatte hatte sich zwar als Kaufmann eine eigene Firma aufgebaut, die viel Engagement verlangte, dennoch versuchte er, soviel Zeit wie möglich mit seiner Familie zu verbringen.
Yasmin, die für das Fastenfest den ganzen Tag in der Küche gearbeitet hatte, deckte gerade den Tisch, als Herr Zafar zu ihr kam, sie von hinten umarmte und zwinkernd in ihr Ohr flüsterte: »Sollen wir uns nicht für eine Weile ins Schlafzimmer zurückziehen?« Liebevoll küsste sie auf die Wange und bettete sein Gesicht an dem ihren.
Yasmin lächelte und versuchte vergebens, sich von ihm zu lösen. Seufzend schaute sie um, bevor sie mahnen zischte: »Schäm dich, die Kinder sind in der Nähe!«
»Ich vermisse dich. Bitte, nur für eine halbe Stunde«, bettelte er wehleidig, während er sich von seiner Frau löste und zu sich umdrehte. Ihre Blicke trafen sich und ein Lächeln bildete sich auf den Lippen Yasmins.
»Nach dem Abendessen! Dann gehör ich nur dir«, versprach sie augenzwinkernd. »Nun lass mich aber bitte den Tisch fertig decken.«
Herr Zafar belächelte die rötlich verfärbten Wangen seiner Frau, ehe er anbot: »Kann ich dir vielleicht dabei behilflich sein Habibdi, mein Schatz?«
»Wenn du möchtest, darfst du gerne die Teller aus der Vitrine holen.«
Nach einer Weile war der Tisch mit silbernem Besteck gedeckt, einem Kerzenständer aus Gold und Tellern aus feinem, chinesischem Porzellan. Rya hatte Blütenblätter aus dem Garten über den Tisch gestreut.
Das besondere Essen verlangte besonderes Gedeck: Es gab Maqlube, ein Schmorgericht aus Reis, Lammfleisch und Auberginen mit gerösteten Mandeln. Dazu wurde Musakkhan serviert, gebackenes Huhn auf Brotfladen, Salat mit frischen, gewürfelten Tomaten, Gurken und Joghurt.
Familie Zafar war froh, endlich wieder den ganzen Tag hindurch essen zu dürfen, denn erst gestern war der Fastenmonat Ramadan zu Ende gegangen, der neunte Monat des muslimischen Mondjahres. Diesmal war der Ramadan in den Sommer gefallen und durch die längeren Tage war es viel anstrengender, vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang nichts zu essen oder zu trinken.
»Papa, darf ich mir einen Fisch aus dem Teich nehmen und ihn sezieren?«, fragte Deron in die Stille des Abendessens hinein, als die Teller gerade aufgetragen wurden.
»Finger weg von den Fischen! Wenn du unbedingt etwas auseinandernehmen möchtest, dann such dir einen Frosch!«, murrte Herr Zafar halbherzig, im Kopf bereits vom köstlichen Mahl schlemmend.
Ryas Bruder wurde ganz heiß und er schluckte. Papas Fisch hatte er schon mittags aus Versehen getötet. Deron saß starr auf dem Stuhl, den Blick nach unten gesenkt, und wagte es nicht, zu widersprechen.
Herr Zafar ahnte, dass etwas nicht stimmte, und fragte: »Hast du etwa schon wieder einen meiner Schleierschwanzgoldfische getötet?«
Der Junge wurde nervös und bekam es mit der Angst zu tun. Er wusste, dass er bedacht antworten musste und hätte sich am liebsten unsichtbar gemacht, um dem bohrenden Blick seines Vaters zu entgehen. Herr Zafar trommelte mit seinen Fingern auf den Tisch und Ungeduld kam langsam in ihm auf.
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