Dennoch gibt es natürlich auch Untersuchungen, die diverse gesundheitliche Risiken bei dicken Menschen nachgewiesen haben. Viele der dabei nachgewiesenen Krankheiten finden sich schon auf der Liste der möglichen Krankheiten, die durch Diäten verursacht werden. Die meisten MedizinerInnen, die über übergewichtige Menschen forschen, unterscheiden nicht zwischen solchen Menschen, die Diäten gemacht haben und solchen, die keine gemacht haben. Dies ist in der westlich industrialisierten Welt auch schwierig, da die meisten dicken Menschen hier eine Diätvergangenheit haben.
Studien in anderen Kulturen – in denen füllige Körper akzeptiert sind – zeigen, dass sehr viele „Dicken-Krankheiten“ wesentlich seltener auftauchen als bei dicken Menschen aus unserem Kulturkreis. Dies ist ein Indikator, dass Diäten und der Stress in einer schlankheitsbesessenen Gesellschaft zu leben, viele Probleme verursachen. Ancel Keys hat 16 verschiedene Langzeitstudien in sieben verschiedenen Ländern zur Frage der Relation zwischen Fettleibigkeit und Todesrisiko koordiniert und stellte im Gegensatz zur Annahme vieler Krankenkassen fest: „In keinem Land dieser Studie war Übergewicht oder Fettleibigkeit ein großes Todesrisiko oder der Auslöser für eine Herzkranzkrankheit“.
Dicke Menschen werden in unserer Gesellschaft in vielfältiger Hinsicht stigmatisiert und diskriminiert. In der industrialisierten Welt, der Welt voller Überfluss, gilt ein dicker Körper als Makel und in keinster Weise mehr als Statussymbol. Ein dicker Mensch wird überhäuft mit Vorurteilen und Stereotypen, muss es sich doch um eine verfressene, faule und unkontrollierte Person handeln. Dick soll einhergehen mit einem ungesunden Lebensstil, der gesellschaftlich geächtet wird. Logisch, dass viele dicke Menschen selber glauben, ihr einziges Lebensziel und Glück wäre ein schlanker Körper. Wie soll man sich auch der Gehirnwäsche aus Zeitschriften und Fernsehen, von Freunden und Ärzten und aus der gesamten Fitnesswelt entziehen?
Diskriminierungen und Stigmatisierungen finden in sehr vielen Bereichen statt. Würden wir bei vielen Stigmatisierungen anstelle der dicken Person andere Menschen mit bestimmten Merkmalen einsetzen, wir würden einen Aufschrei der Empörung produzieren.
Kleine Menschen essen ständig, sie können sich einfach nicht beherrschen.
Bei diesem Rollstuhlfahrer muss man doch noch mal erstaunt hinterherschauen, das geht ja gar nicht. Dass der sich in die Öffentlichkeit traut.
Klar, dass der blinde Mensch faul ist, er kann ja nichts sehen.
Farbige Menschen stinken, dass ist einfach so.
Die meisten Türken haben immer Blähungen.
Südländer schwitzen viel und stinken dann auch oft. Sie sollten mehr auf ihre Körperpflege achten.
Bei all diesen Aussagen regt sich hoffentlich Widerstand bei Dir. Es ist weder vorstellbar einen solchen Satz in den Medien zu finden, noch ohne Empörung vor anderen äußern zu können. Und das ist gut so! Nicht gut ist die Tatsache, dass man diese Sätze für dicke Menschen einfach so sagen kann oder in den Medien zu hören bekommt. Dicke Menschen sind eine gesellschaftliche Gruppe, die ohne Sanktionen diskriminiert werden darf! Die Abwertung findet dabei auf unterschiedlichen Ebenen statt, zum Teil offen, zum großen Teil aber auch sehr subtil. Warum dagegen niemand vorgeht? Ein Grund liegt in der Tatsache, dass dicke Menschen sich auch selbst stigmatisieren.
Sie geben sich selbst die Schuld daran, dick zu sein und finden es deshalb ganz normal, dass andere sie deswegen beschimpfen und benachteiligen. Die eigene Schuld wie die Beschimpfungen anderer produzieren immensen Stress.
Tag für Tag, mit jedem Moment, in welchem dicke Menschen mit anderen Menschen in Kontakt kommen, kann es zu dummen Bemerkungen kommen. Unbewusst geht man angespannt einkaufen, denn jemand könnte den Inhalt des Einkaufswagens kommentieren. Pläne, einfach mal langsam joggen zu gehen oder im Park Gymnastik zu machen, werden nicht realisiert aus Unsportlichkeit, sondern aus Angst vor abwertenden Blicken oder Sprüchen. Ich finde, dieser alltägliche Stress wird massiv unterschätzt. Ein wesentliches Bedürfnis für alle Menschen ist die Zugehörigkeit und Anerkennung von und in Gruppen von Menschen oder einzelner Personen. Nehmen wir zunächst die Zugehörigkeit. Egal in welche neue Gruppe ich komme, ob in eine Gruppe von Coachingkollegen, in eine Gruppe, die sich zum Spielen trifft, in Gruppen von Existenzgründern oder in welche Gruppe auch immer. Ich habe immer die Gefahr, dass ich nicht dazugehöre. Wie das geht? Nun, zunächst sind in vielen Gruppen keine anderen dicken Menschen da. Das heißt, rein äußerlich habe ich ein Merkmal, was mich zur Außenseiterin werden lässt. Manchmal macht mich das unsicher, gerne wird dieses Gefühl noch verstärkt durch unpassende Stühle, in die ich mich reinquetschen muss oder bei denen ich dann die einzige bin, die sich aus dem Nachbarraum erstmal einen Stuhl ohne Lehnen organisiert. Nun kommt die Anerkennung dazu. Oder zumindest Wahrnehmung als gleichberechtigte, ganz normale Person. Diese wird gerne untergraben, indem sich die anderen über Ernährung, ihre letzte Diät oder dass sie selbstverständlich viel zu dick sind, unterhalten. Das Gespräch hat zunächst erstmal nichts mit mir zu tun, ich sitze nur in der Runde und werde – wenn ich mich nicht selbst aktiv einbringe – auch nicht mit einbezogen. Aber es macht was mit mir. Es lässt sich mich unwohl fühlen, wenn andere, deutlich dünnere Menschen, sich über Themen unterhalten, die unterstellt eigentlich meine Themen sein sollten. Ich fühle mich unwohl und sicherlich nicht der Gruppe zugehörig. Noch schlimmer wird es, wenn Menschen mich direkt auf meine Figur ansprechen und meinen, mir ungefragt Ernährungs- oder Gesundheitstipps zu geben. Und fast beleidigt, auf jeden Fall aber mit Unverständnis reagieren, wenn ich ihre Meinung nicht teile bzw. ihre Ratschläge nicht annehme. Oder, viel subtiler, mich bei bestimmten Aktivitäten von vornherein ausschließen, weil sie sich nicht vorstellen können, dass ich mit meinem Körper mit in die Sauna komme oder auch Lust auf ein Abenteuer im Kletterwald hätte. Oder mir mit positiv gemeinten Komplimenten das Gefühl geben, anders zu sein. Dies passiert, wenn ich auf die Bühne gehe und rede und ich das Feedback bekomme, ich finde es toll, dass du dich das mit deinem Körper einfach so traust. Ja, warum denn bitte nicht?
Natürlich ist viel davon nicht böse gemeint, dennoch entfaltet es oft eine fast giftige Wirkung. Botschaften von Verwunderung, fehlender Akzeptanz und Andersartigkeit verstärken bei mir nicht das Grundbedürfnis von Zugehörigkeit und Anerkennung. Nun könnte man ja sagen, dass man bei vielen Gruppen sich dann andere raus sucht, bis man die passenden gefunden hat. Leider ist dieses Konstrukt trotzdem fragil. Denn selbst wenn ich dann eine Gruppe gefunden habe, in der ich mich anerkannt und zugehörig fühle, kann es sein, dass ein neues Gruppenmitglied in der Lage ist, dies schnell zunichte zu machen. Weil im Zweifel kein anderer merkt, wie schnell der subtile Ausschluss stattfindet und wie schnell sich das Unwohlsein steigern kann. Es gibt dabei in meinen Augen übrigens fast keine Gruppen, in denen sich ein dicker Mensch sicher fühlen kann. Ob Familie, soziale und berufliche Zusammenschlüsse oder Freunde, die Zugehörigkeit bleibt fragil, es kann in so gut wie allen Zusammenhängen passieren, dass man wegen seiner Figur angesprochen wird und eine wie auch immer geartete Forderung formuliert wird, sich zu verändern. Natürlich nur gut gemeint und zu meinem Besten. Aus der Erfahrung, dass es passieren kann, baue ich mir diese Möglichkeit oder konstruiere mir die Gedanken der anderen, auch wenn kein anderer was sagt. So konnte ich zu einem Onkel, der Arzt ist, eigentlich nie ein normales Verhältnis aufbauen. Obwohl ich mich nicht erinnern kann, dass er mich je auf meine Figur angesprochen hat. Ich vermute aber, dass er meine Figur als problematisch ansieht.
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