Einem Fiebertraum ähnlich landete ihr Bewusstsein an einem anderen Ort des Realraumes, in einer riesigen, von schwarzem Rauch durchfluteten Bodenlosigkeit, immer noch drehte sie sich im Rausch des Wolkensturms und immer noch schienen ihre Sinne beinahe überzuschießen. Aber inmitten der rauchdurchfluteten Tiefe begannen sich blau glänzende lange Bänder abzuzeichnen, die wie riesige Spinnfäden von links nach rechts und von oben nach unten den Raum durchzogen, Sterano fühlte sich plötzlich von den Fäden aufgefangen, eingehüllt und angeschlossen. Fast augenblicklich fühlte sie, dass sie wieder heimgekommen war, wie das Netz begann, die gesammelte Energie aus ihrem Körper zu ziehen, aber sie hatte keinen Körper mehr, sie war nur noch Licht, eine weiße Spindel aus Licht, rundum drehten sich in dem schwarzen Rauch noch mehr solche Spindeln, und durch die Fasern, die sich an sie angelegt hatten, konnte Sterano sehen, wie das Netz von den anderen Spindeln zusammen gehalten wurde. Sie sah Bilder, Töne und Erinnerungen auf sich einströmen, andere durch sich hindurchfließen und ihre eigenen wieder zurückkommen, sie ertrank fast in der Bilderflut und dem bunten Taumel der Nachrichtenflut. Die Jade-Welt. Die Mono-Omo-Welt. Beide so hell und dynamisch wie Artesa. Sterano wanderte durch die Bilderwelt von Jade, erkundete den goldenen Pfad von Mono-Omo. Sie war zurück im Netz. Das Netz hatte sie wieder aufgenommen. Sterano sandte Bilder aus von Boden, vermischte sie unwillkürlich mit denen von Artesa: Licht, Luft, Spannung, Energie. Boden bestand aus Wasser, Bäumen, Musik, Früchten, Wein und Brot. Aber von dem Netz wurden immer wieder nur die Bilder von Artesa zurückgespiegelt, die Düfte und die Süße und die Melodien von Boden ignorierte das Netz. Aber Sterano hatte von Boden zwei andere Bilder mitgebracht, die gab sie jetzt in das Netz hinein. Das Netz begann zu reagieren. Die Bilder kamen zurück. Die Bilder formierten sich. Sterano musste Fragen beantworten, nach Anpassung und Überlebensstrategien. Sie kommunizierte mit dem Netz. Das Netz begann, aus ihren Bildern eine neue Wirklichkeit zu formen. Tausend von den meinen sind notwendig, um etwas zu formen, das so kraftvoll sein soll, wie wir selbst. Sterano gab dem Netz zusätzlich Bilder von ihren Träumen und Wünschen. Das Netz wob diese Wünsche hinein in die neue Materie. Aus der Energie, die Sterano mitgebracht hatte, erschienen zwei neue Wesen. Deshalb war sie hier her gekommen. Das Netz legte seine Bänder an die neuen Wesen und Sterano bekam Zeit, sie zu erkunden. Sie waren vollkommen, sie pulsten leise und schliefen noch.
Sterano war glücklich. Sie hätte hier bleiben mögen bis zum Ende aller Gedanken. Aber das Netz wollte das nicht. Bring’ uns zur Artesa, forderte es erst leise und dann immer deutlicher.
Sterano wehrte sich. Ich bin müde, immer nur fliehen zu müssen. Ihr werdet dort auch immer nur auf der Flucht sein.
Dann bring Artesa zu uns. Artesa wird den unseren Welten hinzugefügt. Artesa wird neue Energie in unsere Systeme bringen. Du bist mächtig, du kannst das, Sterano. Du hast es nur noch nicht ausprobiert.
Den schwarzen Rauch freilassen?
Mach es, wie du es für richtig hältst.
Ich will nicht. Lasst mich hier bleiben und träumen. Ich bin so müde.
Das Netz löste sich von ihr. Als erstes verlor sie den Kontakt zu ihren beiden Schöpfungen. Dann blieb nur noch ein Band an ihr fest. Über das Band sah, sie, wo die beiden Kleinen auf Artesa landen würden. Inmitten von lauter Fremden. Reflexartig forderte sie das Netz auf, die besondere Gestalt der beiden zu verbergen. Das Netz folgte.
Willst du sie allein dort lassen?
Nein. Ich folge. Ich gehe zurück zur Artesa. Ich werde Artesa euren Welten hinzufügen. So schnell ich kann. Lasst ihr mich dann träumen?
Gewiss. Geh nur! Wir werden warten. Aber nicht zu lange! Verstehst du?
Der Raum voller Rauch fiel zusammen, verwandelte sich in eine Schale aus dunkelrotem Dampf, die wie ein Riesenspielzeug zu kreisen begann, in dieser wilden Drehung verlor Sterano die Macht über ihren Willen und über Zeit und Raum. Drei goldrote Strahlen fielen einer nach dem anderen zurück auf Artesa, rechtzeitig, bevor der Riesenwolkenberg endgültig zusammenfiel.
Vor ihr war einer der Strahlen auf die verwüstete Küste zwischen dem Niemandsland und dem Primesorischen Meer gefallen, er hinterließ ein fertiges Kind mit der Statur eines dreijährigen Artesianers, das zuerst seine in der Sonne glitzernden Flügel entfaltet hatte, sie dann aber plötzlich unter seiner Haut verbarg, und sich heftig gegen neugierige Schaben zur Wehr setzen musste. Zwei Stunden später fand es dort die Primesorische Küstenwache, sie verscheuchten die Schaben und brachten das Kind weg.
Der zweite Strahl fiel in ein Kinderheim mitten in Thraxon, dort entstand plötzlich auch ein kleines geflügeltes Wesen. Aber bevor auch die anderen Kinder begriffen, was da passiert war, wurde auch dieses Fremde so wie sie, beinahe so wie sie, denn es war weder Junge noch Mädchen, und besaß eine Präsenz, dass ein einziger Augenaufschlag einen ganzen schreienden Saal zum Schweigen bringen konnte.
Sterano aber fiel zuerst wieder in ihr Wolkengebirge, das immer kleiner und kleiner wurde und vor den Satelliten nach Norden driftete, zum kalten Wasser hin. Endlich kam sie über einer dunklen und unwirtlichen Insel an, dort entließ sie das Wolkengebirge, ließ sich zu Boden gleiten, zwischen riesige fluoreszierende Pilzgewächse, die vom Sturm zerzaust waren. Sie umkleidete sich mit der Hülle, mit der sie sich auch im Markthaus am Dreieck unter Artesianern bewegt hatte. Und dann fragte sie sich, warum ihr gerade in dieser unwirtlichen, nebligen Landschaft voller giftiger Pilze Sameon begegnete. Sameon, das Kind, für das Wass Mato die riesige Markthalle am Dreieck gebaut hatte und 25 Jahre seines Lebens geopfert. Dieses Erstaunen kostete sie genau die wichtigen dreißig Sekunden, die sie gebraucht hätte, um sich in der neuen Situation rechtzeitig zu orientieren.
„Das ist die Aufgabe, für die wir dich ausgesucht haben“, sagte die Stimme hinter Sameons Stirn. „Ich werde dich begleiten, durch deine Augen sehen und dir sagen, was du tun sollst. Es kann sein, dass ich still sein muss, dann musst du aus eigenem Ermessen handeln.“
„Bekomme ich eine Waffe“, fragte Sameon.
„Nein“, fauchte die Stimme beinahe feindlich.
„Wer schützt mich?“
„Du brauchst keinen Schutz, Sameon. Du sollst Schutz geben. Schutz vor schießwütigen Artesianern und vor neuen Missverständnissen. Mach es gut! Das Objekt, mit dem du Kontakt aufnehmen sollst, befindet sich zwischen den großen Faulschwämmen. Ich sage dir, wo du es findest.“
„Warum gerade ich?“
„Beeil dich!“
Und Sameon war gegangen. Er hatte die bewaffnete Meute hinter sich gelassen, er hatte weder eine Lampe noch ausreichend warme Kleidung an, er war am Vormittag vom warmen Primesorischen Strand weggeholt worden, dann von einer genauso ahnungslosen Hubschrauberbesatzung stundenlang kreuz und quer durch die Gegend geflogen worden, hier gelandet, er fror und seine Augen gewöhnten sich nur langsam an das Licht der fluoreszierenden Pilze. „Nach links“, sagte die Stimme. „Jetzt noch zehn Meter geradeaus.“
„Ich sehe da was“, sagte Sameon.
„Ab jetzt schweige ich.“
Das ist eine Arbeit, die kannst du, sagte sich Sameon. Sie hätten mich sonst nicht dafür ausgewählt. Sie hätten mich dafür sonst nicht ausgewählt.
Er ging auf die Gestalt zu und drückte alles, was wie Angst ausgesehen hätte, weit von sich. „Verdammt, was treibt eine Fremde allein hier auf dieser Insel in der Wildnis?“, sagte er kopfschüttelnd. Er hatte Blickkontakt aufgenommen und war bis auf wenige Meter heran gegangen.
„Weißt du nicht, wer ich bin?“, fragte sie. Sie sah auf, und war in der Augenwinkeln so müde wie eine hundertjährige Greisin. Sameon verstand die Aufregung rundum nicht. Er sah sich um und suchte nach einem wirklich gefährlichen Objekt. Aber da gab es nichts anderes.
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