Zuerst war ihm, als würde überhaupt nichts passieren, aber dann begann doch etwas zu passieren, wenn es auch nur das war, dass ihm die Haare im Genick aufstanden.
„Sterano“, sagte er wieder, diesmal ganz leise, und die Haare stellten sich auf bis zur Stirn. Ein warmer Luftzug fuhr durch die Ausstellung, die Algenartigen flogen hoch und verwirrten sich ineinander, wie Stofffäden, die im falschen Waschmaschinenprogramm gelandet waren.
„Wo bist du, kann ich dich sehen?“
Der Hauch vor ihm drückte eine große Beule in die rotgepunkteten langblättrigen Pflanzen, fegte durch den Raum und baute sich als weiße Rauchsäule zwischen den roten Blättern auf.
Du würdest dich erschrecken, summte es in Rotams Ohren. Ich bin hässlich und unförmig, nimm mit meinem Atem vorlieb und sprich leise mit mir. Ich freue mich zwar, dass es jemanden gibt, der meine Hilfe sucht, aber es gibt noch mehr, die nur meine Asche wollen.
„Sterano“, sagte Rotam noch einmal leise.
Zauberwort, Rotam Vargun, bitte sei still! Ich atme deine Nähe, aber ich will nicht, dass ich dich das nächste Mal in einem eurer Kopf-Krankenhäuser besuchen muss.
„Ich möchte so viel von dir wissen!“
Hast du mich nur deswegen gerufen. Sollte ich mich so in dir getäuscht haben?
„Nein, das ist es nicht, weswegen ich dich hier haben möchte. Es ist wegen Sell. Ich möchte, dass du Sell hilfst. Gib’ ihr einen Hauch von deiner Kraft! Und wenn es nur für heute ist. Für dieses Vorstellungsgespräch. Einfach, damit sie nicht zittert. Damit es ihr im unpassenden Moment nicht die Sprache verschlägt.“
Rotam sah wieder die roten Blätter fliegen, seltsame Formen beschreiben, den weißen Rauch auf und nieder steigen.
Lass mich sehen, was ich für euch tun kann, hörte er undeutlich, dann wurde der Rauch still, Sell kam gerannt.
Sie war außer Atem, sie hatte wirklich die Mappe mit ihren Arbeiten dabei und lief, ohne darauf zu achten, mitten in den weißen Rauch hinein, aber sie schüttelte sich nur einen Moment, als hätte sie einen Spritzer kalten Wassers abbekommen. Der weiße Rauch war weg. Auch die rotgesprenkelten Blätter hatten sich beruhigt. Sie wehten nur noch etwas nach, als wären sie elektrisch, und Sell ein Magnet, das sie anzog.
Rotam ging auf sie zu, nahm ihr die Mappe ab, nahm ihre Hand und während er Sell mehr vorwärts zog, als neben ihr ging, da sprang der Hauch von ihrem Arm zu seinem Arm und das Ziehen wurde leichter.
„Sell“, sagte Rotam. „Geht’s jetzt besser?“
„Wo werden wir hingehen?“
Rotam blieb abrupt stehen. Der Unterschied war einfach zu krass. Er sah sie an, und er wusste nicht mehr, wen er vor sich hatte. Um sie herum war immer noch die Ausstellung, aber Rotam hatte den Eindruck, als würden sich alle diese seltsamen Ausstellungsstücke nur ihnen zuwenden, als wäre Sell ein großes Licht.
„Sell!“, fragte er noch einmal.
„Sie schläft. Sie träumt, dass sie sicheren Schrittes zu dieser Aufnahmekommission geht.“
„Das war nicht so gedacht“, sagte Rotam leise. „Bitte, sie muss doch später wissen, dass sie dort gewesen ist.“
„Noch nicht. Auch ich muss mich erst an diese Form gewöhnen. Was sind das für Pflanzen?“
„Kunstwerke!“, gab Rotam zurück.
„Seltsam. Wer hat das alles geschnitzt und bemalt? Dabei ist alles unversehrt. Ich glaube, der Künstler ist ein Betrüger, der mit einem Schiff über das weite Meer gefahren ist, auf einer einsamen Insel hoch im kalten Norden all diese Gewächse eingesammelt hat und sie jetzt als Kunst feilbietet. Ihr solltet ihm nicht glauben!“
Rotam lachte kurz auf. Diese Theorie müsste er mal seiner Mutter anbieten. Dann würde sie ihn für völlig verrückt erklären. Aber dann wurde er wieder ernst.
„Wo lebst du jetzt?“
„Ich habe einen Platz gefunden, der für mich gut ist. Du würdest dort sterben. Lass uns gehen. Es ist alles sehr unsicher geworden. Wir haben nur wenig Zeit.“
Rotam verließ mit seiner Begleitung die Ausstellung, lieh sich ein Taxi und fuhr zu dem Stadtteil, in dem nach Sells Angaben diese Kommission tagen sollte. Während der Fahrt versuchte er ein paar Mal, SellSterano zu beobachten, wie sie auf die Stadt reagierte, aber das Taxi beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit, es funktionierte nicht richtig, es stuckerte und ruckte, wenn es von einer Leitlinie zur anderen sprang, und fuhr, als ob es einen Bus mit fünfzig übergewichtigen Primesorern mitschleppen müsste. Als sie ausgestiegen waren, rochen Antrieb und Elektronik stark nach heißem Öl.
„Rotam, ich fürchte mich, lass uns umkehren.“
Das war wieder Sell. Oder?
„Nein!“, fauchte er.
Dann ein Hauch Sterano. Sie hatte wieder Boden unter den Füßen. Sie wirkte erleichtert, sah nach dem Gebäude, das sie jetzt betreten wollten, lächelte und löste sich von Rotams Hand. Sie ließ sich die Mappe geben. Sie sah sich um, und erfasste in Sekundenbruchteilen die Regeln der sich vor dem Gebäude bewegenden Artesianer, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das Gebäude, und sah fast eine ganze Minute nur unbewegt dorthin. Rotam fürchtete schon, dass sie auffallen würde mit diesem ungewöhnlichen Verhalten. Aber plötzlich fiel die Starre von ihr ab, sie ging auf das Gebäude zu, mitten über die stark befahrene Verkehrsader, ohne dass ihr irgendetwas passiert wäre, dann stieg sie die Treppen nach oben, mit ebenmäßigen, festen Schritten, und zog damit wirklich alle Aufmerksamkeit auf sich, nur durch diese Art, die Treppe zu erobern, und ihre wirklich gerade und aufrechte Haltung. Als sie oben auf dem Absatz stand, drehte sie sich um, unwillig, weil er stehen geblieben war, und Rotam lief hinterher wie ein kleiner Schuljunge.
Vor dem Raum, in dem die Aufnahmekommission tagte, mussten sie einen Moment warten, SteranoSell vermaß mit den Augen den Vorraum und Rotam bewunderte die Ruhe ihrer Person, die die Wartezeit dazu nutzte, mit sich selbst ins Gleichgewicht zu kommen. Schließlich wurden sie herein gebeten, Rotam trat gleich zur Seite und hoffte inständig, dass ihn niemand ansprach.
SellSterano stellte sich vor, sie sprach die Bewerbung aus, und sie sah genau den Thraxoner an, der im Raum wichtig war, sie legte ihre Mappe auf den Tisch, und sie ließ die Prüfer blättern. Sie beantwortete Fragen nach Arbeitstechniken und Material, und Rotam fragte sich immer wieder, wer da jetzt geprüft würde, Sell oder das Gespenst Sterano.
Dann zog aber doch einer der Prüfer ein Blatt aus der Mappe und fragte, was er denn von dieser Tupferei halten sollte. Das war die böse theoretische Frage, vor der Sell sich gefürchtet hatte. Es war eine psychologische Frage, keine wirklich fachliche, denn der Prüfer hatte ein wunderbares Bild herausgezogen, eines mit einer schwarzen Sonne in der Mitte, die einen langen spiralförmigen Schweif um sich zog, und inmitten dieses Schweifs schwebte ein einzelner dunkler Planet. Es war ein Bild in goldorange und der Schwärze des optischen Raums.
SellSterano legte die Mappe hin, und einen Moment dachte Rotam, jetzt verlässt sie fluchtartig den Raum und redet nie wieder mit mir.
Aber ihre verschleierten Augen blickten auf das Bild, wurden plötzlich glockenklar und wandten sich an den fragenden Prüfer. Sie nahm das Bild, und dann redete sie mit der Stimme, die nicht die von Sell war:
„Das Bild zeigt die Nähe und die Einsamkeit. Das da, die hell umrandete Sonne, das sind meine Geschwister, ihre Antlitze sind schwarz, weil sie so weit von mir entfernt sind, und ich ihre Nähe fast nicht mehr spüre. Ein Schweif gemeinsamer Gedanken und Erinnerungen verbindet uns, egal wie weit wir voneinander getrennt sind, und alle meine Gedanken hängen an ihnen als Zentrum. Aber in diesem Schweif bin ich einsam, denn ich kann nicht mit ihnen Kontakt aufnehmen, und wenn das noch länger anhält, fürchte ich, werde ich mich in diesem Schweif verlieren, fortstrudeln in das Schwarze der Nacht.“
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