Hans Marchwitza - Sturm auf Essen

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Dieser Ruhrkampf-Roman über die Rote Ruhr-Armee und ihren Sieg über den faschistischen Kapp-Putsch vom März 1920, ist spannend von der ersten bis zur letzten Seite.
Franz Kreusat …
… ist die Hauptperson des Romans. Der Bergmann hat als junger Soldat den ersten Weltkrieg überlebt. Als in der Nacht vom 12. zum 13. März 1920 in Berlin eine Clique faschistischer Beamte und Reichswehrgeneräle unter Kapp und Lüttwitz einen Militärputsch gegen die Reichsregierung des SPD-Kanzlers Müller anzettelt und die Reichsregierung nach Stuttgart flieht, legt schon wenige Stunden später am 13. März ein Generalstreik ganz Deutschland lahm.
Eine Armee aus Arbeitern
Als die Putschisten, die den Kaiser zurückholen und alle demokratischen Errungenschaften der Novemberrevolution von 1918 auslöschen wollen, den Generalstreik unter Todesstrafe stellen, reizt das die Arbeiter im Ruhrgebiet aufs äußerste:
"Wenn so ein General da oben sitzt, dann hat für uns die Glocke geschlagen. Da ist kaum noch was zu machen." «Halt doch deinen verfluchten Rachen», schrie den Schwarzseher ein anderer an. «Natürlich muss man was dagegen tun.» … «Die Räder dürfen sich nicht eine Minute mehr bewegen, oder der Teufel hol` uns.» «Knarren brauchen wir», schreit ein anderer. «Warum haben wir damals die Knarren überhaupt abgegeben…» «Knarren, wir haben sie!» erinnert sich Franz. Wie gut war es, dass sie die Gewehre aufgehoben hatten. (S. 130)
Vor allem Berg- und Hüttenarbeiter formieren sich zur Rote Ruhrarmee. Sie entwaffnet umgehend Freikorps-Truppen in Hagen/Wetter, rollt binnen zwei Wochen das Ruhrgebiet von Hagen über Dortmund, Bochum, Gelsenkirchen, Essen, Mülheim und Duisburg auf, schaltet die Polizeikräfte aus und übernimmt die Macht in den Städten.
Die Kanonenstadt
Die Einnahme der Kanonen- und Krupp-Stadt Essen, der «Sturm auf Essen», ist ein besonderer Wendepunkt. Hier haben sich massive Kräfte der «Grünen Polizei» und der «Sicherheitspolizei», paramilitärische Bürgerkriegstruppen konzentriert. Sie werden mit größter Kraftanstrengung und schweren Opfern überwunden, wie auch eine in einem Gebäude verschanzte Polizeieinheit:
Kramm (ein Bergmann) empfing beide Kumpels mit wuterstickter Stimme. «Die Gesellschaft drinnen will nicht herauskommen. Ich schleudere eine Dynamitladung hinein. Ich bin es jetzt leid geworden. … an die zehn Genossen liegen schon tot oder verwundet…» (S. 180)
Dem Mut und der Entschlossenheit der Roten Ruhrarmee ist zu verdanken ist, dass der faschistische Kapp-Putsch niedergeschlagen wird. Der Generalstreik allein hat das nicht vermocht.
Ein authentischer Roman
Die Reichswehr greift später vom Niederrhein aus die Ruhrarmee an und nimmt an den bewaffneten Arbeitern blutige Rache. Sie verfolgt und metzelt bis in den April 1920 hinein über 2.000 Arbeiter. Kein Verantwortlicher der Freikorps wie auch der Reichswehr wird für diese Verbrechen bestraft.
Der Roman «Sturm auf Essen» überzeugt, weil er authentisch ist. So spielt in den Buch auch das Ringen um einen klaren Standpunkt in dieser bewegten Zeit eine wichtige Rolle. Hans Marchwitza, ein in der USPD, später in der KPD organisierter Kommunist, selbst Bergmann, hat in der Roten Ruhrarmee in der ersten Reihe mitgekämpft.

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HANS MARCHWITZA

STURM AUF ESSEN

Herausgegeben vom

Kommunistischen Arbeiterbund

(Marxisten–Leninisten)

Verlag NEUER WEG, Tübingen

Druck:DusslingerKlein–Offset–DruckereiGmbH

ISBN: 978-3-88021-540-5

Es ist das Jahr 1918 und Winter.

Schnee fällt.

Die Männer, die den Krieg überlebt haben, kommen heim. Die Zechenhäuser, in die sie zurückkehren, sind grau und schief, und ihr Verputz sieht aus wie das abgeschundene Fell alter Grubengäule. Die „Grabentiere“ sollen wieder Väter, Ehemänner, Brüder, Söhne werden. Die Frauen schreien, Mütter schreien, Schwestern heulen: „Er ist wieder da, o mein Gott!“ O mein Gott! Die Kinder fragen den fremden Mann, der ihr Vater ist: „Bringst du Brot mit?“

Das Wort „Brot“ wirkt wie der Duft von Blumen in einem Märchen. „Heiliges Brot“, stammeln die vor Hunger zitternden alten Leute, während sie das ihnen hingehaltene Stück mit aller Scheu hinnehmen. „Die Totgeglaubten dachten an uns.“

Einem verhaßten, verfluchten Krieg folgte ein verhaßter, verfluchter Nachkrieg.

Dunkel sind die Küchen, die Kammern; die Höfe dunkel und die Straßen dunkel. Der Krieg hat Menschen gefressen, er hat Kohle gefressen mit seinem Riesenmaul, er fraß Liebe, Ehen, er fraß die Läden leer; die Zähne des Krieges zerbissen und zerrissen die Wände der Zechenhäuser. Der Krieg nagte die mühsam erkämpften Gardinen von den Fenstern, die Bezüge von den Betten und die Füße nackt. Er bedeckte die Familien mit Geschwür und Krätze und setzte Rachitis und Hunger als nie mehr weichende Schreckensgäste in die verkommenden Wohnungen der Bergarbeiter.

„Du, das mitgebrachte Hemd will ich einem der Buben umnähen, sie haben fast nichts mehr am Leibe!“

„Du, wenn du doch daran gedacht hättest, noch einige Lumpen mitzubringen, ich hätte den Kindern paar Hosen draus zusammengestoppelt. Hast nicht dran gedacht ...!“

Der Krieg kaut an den Wänden, knackend, schreckend. Draußen flattert Schnee.

An einem Dezembertag war auch Franz Kreusat zurückgekommen. Er hatte, nach der bewegten Wiedersehensszene mit der Mutter, seinen verdreckten Soldatenmantel und den Schal abgeworfen und saß stumm und grübelnd am Tisch. „Zu Haus!“ Er sagte es mehrere Male zu sich selbst, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß er tatsächlich wieder daheim sei. Dieses Glück hatte er sich lange nicht mehr vorstellen können, er hatte daran nicht mehr geglaubt. Er blickte sich halb am, das Gesicht in die Hand gestützt: es war ihre alte Küche. Da stand der gelbe Geschirrschrank, da hing der kleine Spiegel am selben Fleck. Da in der Ecke stand sein Tischchen. Nein, es war kein Traum, er war zu Haus.

„Komm, iß was!“ sagte die noch erregt umhertrippelnde Mutter. Sie hatte noch, Gott sei Dank, ein paar Kartöffelchen im Haus gehabt und hatte ihm diese mit einer Messerspitze Fett, der nur selten vorhandenen Kostbarkeit, in dem Pfännchen gebraten. „Komm, iß ...!“ ermahnte sie und tupfte mit der Schürze die jetzt immer so leicht fließenden Tränen weg. „Komm, iß ... Träum nicht!“

Der alte Kreusat, ein großer Mann, aber welk und dürr wie ein kranker, dorrender Baum, saß auf der kleinen Fußbank am Herd und schnaubte. Als ihm der Sohn die Hand gegeben – denn für eine Umarmung fühlten sich beide zu scheu –, hatte der alte Mann geschluckt. Jahrelange heimliche Angst und Sichverfluchen, daß er den Jungen nicht gehindert habe, als er freiwillig wegrannte; der Rest dieser Angst hielt ihm noch die Kehle zu.

Der Junge aß die Kartoffeln, die ihm die Mutter aufnötigen mußte. Sie beobachtete ihn dabei und wischte an ihren Augen. Groß und mager war er. Und der düstere, abwesende Blick schreckte sie. Sie wußte nicht, daß dieser Blick, diese sich krampfhaft faltende Stirn, die Unrast, mit der er sich umsah, Flandern, Verdun, Aisne und noch einmal Verdun und noch einmal Flandern waren. Sie wußte nicht, daß er nicht dreiundzwanzig Jahre, sondern fünfzig, hundert Jahre alt war, daß er eine Ewigkeit von Schrecken und Toden durchgehetzt hatte. Sie dachte glücklich: Er ist wieder zurückgekommen!, und sie schnaubte die Tränen in ihre Schürze.

Franz sah sich in der Wohnung um. Alles war noch wie früher, stand fast gespenstisch genau auf dem alten Fleck, – aber ein Jahrhundert schien zwischen dem Früher und Heute zu liegen. „Wer ist denn von den anderen noch zurückgekommen?“ fragte er.

Einige waren zurück. Von einem ganzen Dutzend vier. Ihre alte Ecke war leer geworden. Auch dieses Erinnern an die alte Ecke lag hundert Jahre zurück.

„Ja – der Freising-Bruno und der Koschewa-Edy sind wieder auf der Zeche am Arbeiten. Nur der Kahlstein rennt noch mit dem Gewehr rum“, erzählte ihm die Mutter. „Der Kahlstein-Hermann war doch bei der Marine in Kiel und ist schon vor zwei, drei Wochen zurück. Er rennt wieder mit dem Gewehr ...“

Franz grübelte. Er war vorläufig zu gar nichts entschlossen, er wußte nicht, ob er noch einmal in die Grube gehen oder ob er die Arbeit wechseln solle. Vielleicht mit einer Übertagearbeit. Aber er konnte sich das kaum noch vorstellen, daß er jetzt wieder einer normalen Tagesbeschäftigung nachgehen könne; er fühlte sich noch immer draußen im Graben. Und allen, die das Glück hatten, sich zu retten, erging es wohl ebenso; alle phantasierten sie nachts dasselbe; sie waren noch immer in Flandern oder vor Verdun.

„Du wirst doch wohl auch wieder in die Grube gehn?“ wagte die Mutter die schüchterne Frage.

„Das weiß ich noch nicht!“ antwortete er erst nach einer Weile, und auf seiner Stirn erschien wieder diese finstere Falte, die sie so schreckte. Er wandte sich halb um und blickte sie fast feindselig an: „Wartest du so sehr darauf? Ich sag’ dir, ich weiß nicht, was ich machen werde.“

Die Mutter fühlte die Bitterkeit und Unrast aus dem bösen Ton des Jungen und erzitterte.

„Was willst du denn sonst? Du willst doch nicht wieder losziehn?“ stammelte sie unter Tränen.

„Nu laß ihn doch“, sagte der alte Mann heiser, „er muß sich doch erst etwas zurechtfinden. Plag ihn nicht gleich am ersten Tag!“

„Ich dräng’ ihn ja nicht“, entschuldigte sich die alte Frau, „gewiß, er soll sich erst etwas ausruhen. Mit der Arbeit eilt es nicht ...“

Franz griff nach seinem Mantel.

„Wo willst du denn hin?“ fragte sie ängstlich.

Der Junge sah sie einen Moment ungewiß an. „Ich will an die Ecke gehen“, sagte er und verließ die Wohnung.

Franz Kreusat stand draußen an seiner alten Ecke. Hier hatten sie früher getobt und gerungen und von Abenteuern gesponnen. Er sah sich um. Keiner der alten Bekannten kam. Eine Schar Jüngerer, sechzehn-, siebzehnjährig, versammelte sich einige Schritte weit von ihm. Die Jungen beobachteten ihn scheu. Er trug ja noch die Uniform. „Das ist Kreusats Franz“, flüsterte einer.

Er ging weiter. Die alte Straße, und doch eine fremde Straße. Er sah den rauchigen Himmel, er sah die bekannten Schachtgerüste zwischen den Häusern auftauchen. Er war zu Hause, und doch fühlte er keine Freude, eher eine Beklemmung. Unter den alten Verhältnissen schuften, nein, dazu fehlte ihm jede Lust. Und die Kumpels schinden sich ganz bestimmt wie früher ab, das sah er jedem Grubengesicht an, dem er begegnete. Mit der Revolution ging es ja wieder bergab. Diese Enttäuschung hatte ihn ernüchtert und mit diesem quälenden Argwohn erfüllt, daß seinesgleichen nichts mehr zu hoffen habe ... Er erinnerte sich an den einen Tag. Er hatte wie viele nicht glauben wollen, daß so etwas wirklich möglich sei – Revolution! Aber dann, als sich die Massen der Soldaten und Arbeiter durch die Stadt wälzten, da hatte es ihn mitgerissen. Die Reden des einen Matrosen, der aus Kiel gekommen war, versengten ihn, und dann hatten sie die alte Kaserne und das Zuchthaus gestürmt, wo die Deserteure und Abgeurteilten saßen, die sich weigerten, weiter mitzumachen. Und als ihn der eine Kuli heulend umarmte und zu ihm „Genosse“ sagte und schrie: „Wir sind frei, die Schinder haben nichts mehr zu bestimmen“ – da hatte er sich das Büchlein ausstellen lassen. Er war Partei geworden, Mehrheitssozialist. Und nun war alles wieder zu Ende. Man spuckte die Revolutionäre nach vier Wochen Umsturz an! Verbrecher, Verräter ...!

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