Hans Garbaden - Im Strom

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16. Februar 1962: In Hamburg brechen die Deiche. Besonders hart trifft es den Stadtteil Wilhelmsburg, wo viele Menschen seit Kriegsende behelfsmäßig in Kleingartenanlagen leben. Unter den zahlreichen Opfern der Sturmfl ut ist auch die junge Renate. Sie hat den Abend mit ihren Freunden Heinz und Michael verbracht. Bei dem Versuch, sich auf das Dach der Laube zu retten, wird Renate von den Wassermassen fortgerissen.
Die Freundschaft der beiden Männer, die ihren Tod nicht verwinden können, zerbricht an Vorwürfen und Schuldzuweisungen. Ihre Wege trennen sich, doch ihrem Stadtteil bleiben sie verbunden. Während Heinz sich als Lokaljournalist durchschlägt, steigt Michael zur Milieugröße auf. Was einst am Süderelbstrand als harmlose Buhlerei um ein Mädchen begann, endet in einer lebenslangen Feindschaft, die auf dem Boden von Wilhelmsburg ausgetragen wird.

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Hans Garbaden

Im Strom

Eine Geschichte aus Wilhelmsburg

Roman

FUEGO

- Über dieses Buch -

16. Februar 1962: In Hamburg brechen die Deiche. Besonders hart trifft es den Stadtteil Wilhelmsburg, wo viele Menschen seit Kriegsende behelfsmäßig in Kleingartenanlagen leben. Unter den zahlreichen Opfern der Sturmflut ist auch die junge Renate. Sie hat den Abend mit ihren Freunden Heinz und Michael verbracht. Bei dem Versuch, sich auf das Dach der Laube zu retten, wird Renate von den Wassermassen fortgerissen. Die Freundschaft der beiden Männer, die ihren Tod nicht verwinden können, zerbricht an Vorwürfen und Schuldzuweisungen. Ihre Wege trennen sich, doch ihrem Stadtteil bleiben sie verbunden. Während Heinz sich als Lokaljournalist durchschlägt, steigt Michael zur Milieugröße auf.

Was einst am Süderelbstrand als harmlose Buhlerei um ein Mädchen begann, endet in einer lebenslangen Feindschaft, die auf dem Boden von Wilhelmsburg ausgetragen wird.

„Im Strom" ist Chronik der Katastrophe von 1962 und gleichzeitig lebendiges Portrait Wilhelmsburger Stadtteilgeschichte von der Nachkriegszeit bis heute.

Was einem so passiert,

passiert einfach.

Es fragt einen nicht vorher.

Es bittet einen nicht um Erlaubnis.

Cormac McCarthy

„No Country for Old Men“

2012

Der Junge stand noch nicht sehr sicher auf seinen neuen Schlittschuhen. Er lief nicht, sondern stolperte damit über das Eis des zugefrorenen Ernst-August-Kanals in Wilhelmsburg. Als er sich dem Uferbereich näherte, kam er ins Straucheln und sah gleichzeitig unter den blattlosen Zweigen einer Weide einen dicken Ast aus dem Eis herausragen. Mit einem Knie auf dem Eis rutschte er darauf zu, um sich daran festzuhalten. Es war kein Ast. Als der Junge zupacken wollte, sah er es. Es war ein hart gefrorener menschlicher Körperteil, der die Schlitterpartie des Jungen bremste.

„Kevin, Kevin, hier, hier ist was“, rief er mit sich überschlagender Stimme.

Sein Freund, ein schon fast perfekter Schlittschuhläufer, zog noch eine elegante Schleife und bremste neben seinem Freund Mesut. Er erkannte es sofort und machte große Augen. „Ein Arm“, stellte er fest, „und am Handgelenk trägt er eine Rolex. Unter dem Eis muss der Körper dazu sein.“

Mesut hatte sein Mobiltelefon schon aus seinem wattierten Anorak geholt. „Ich rufe meinen Vater an.“

„Nein“, sagte Kevin, der aufgeweckte Uhrenexperte. „Gib mal her; wir müssen die Polizei rufen.“

Er nahm Mesut das Telefon aus der Hand und wählte die 110.

1960

Es war ein brütend heißer Sommertag. Die beiden Freunde lagen am Strand einer kleinen Badebucht an der Süderelbe in Wilhelmsburg und beobachteten, wie ein attraktives Mädchen das Wasser verließ, zu seinem im Sand liegenden Handtuch ging und sich trockenrubbelte. Dabei blickte es auffällig unauffällig zu den beiden Zweiundzwanzigjährigen.

Michael Sonnenberg, ein etwas arrogant wirkender junger Mann, der seine Haare nach dem Schwimmen wieder zu einer Schmalztolle geformt hatte, stieß seinem Freund Heinz Bendowski in die Seite. „Nicht unflott, die Kleine; und du wolltest unbedingt ins Freibad am Assmannkanal. Gut, dass wir uns für meinen Vorschlag entschieden haben. Wer geht rüber und spricht sie an?“

Als Heinz nicht gleich antwortete, nahm er einen Zweig vom Boden, brach zwei Stücke ab, von denen das eine kürzer als das andere war. Er ließ die Stücke in seiner Hand verschwinden. Geschickt manipulierte er die Stücke dabei so, dass aus dem längeren Stück auch ein kurzes Stück wurde. Er ließ die beiden jetzt kurzen Stücke zwischen Daumen und Zeigefinger aus seiner Hand herausragen und hielt sie Heinz hin: „Hier, wenn du das kürzere Ende ziehst, darf ich rüber gehen.“

Heinz nickte und zog. Wortlos stand Michael auf und ging zu dem Mädchen, welches inzwischen auf seinem Handtuch lag. Heinz beobachtete, wie sein Freund dort angekommen in die Hocke ging und es ansprach. Die Entfernung war zu groß, um etwas zu verstehen. Das Mädchen lachte und erwiderte etwas. Nachdem Michael noch einige Male genickt und auch noch etwas gesagt hatte, kam er zurück. „Sie heißt Renate, ist achtzehn und hat meine Einladung zum Eisessen angenommen. Wir treffen uns um sieben in der Eisdiele in der Veringstraße. Du musst aber dabei sein; das war ihre Bedingung.“

Heinz, der im Gegensatz zu seinem etwas überheblich wirkenden Freund mit seiner zurückhaltenden Art einen sympathischen Eindruck machte, war einverstanden.

Die beiden Freunde hatten sich als achtjährige Jungen 1946 kennengelernt. Ein Wilhelmsburger Fußballverein hatte nach dem Krieg mit dem Neuaufbau des Clubs begonnen. In den letzten Kriegsjahren war ein geregelter Spielbetrieb nicht mehr möglich gewesen. Die meisten der aktiven Fußballer kämpften als Soldaten an den verschiedenen Fronten. Und nach dem Krieg kamen viele nicht zurück. Sie waren gefallen oder in Gefangenschaft geraten.

Michael Sonnenberg und Heinz Bendowski kamen nach einem Aufruf des Vereins auf den Trainingsplatz, auf dem sich Wilhelmsburger Jungen aller Altersklassen eingefunden hatten. Sie wohnten zwar nur einen Steinwurf weit auseinander – Michael in der Veringstraße und Heinz in einem Haus der Genossenschaftsbauten in der Fährstraße – und hatten sich in den Pausen auf dem Hof ihrer Grundschule auch schon gesehen, sie gingen aber in verschiedene Klassen der gleichen Altersstufe. Der erste richtige Kontakt ergab sich auf dem Trainingsgelände.

Der Trainer, ein alter Haudegen, der wegen seines Alters nur noch beim Volkssturm in der Heimat eingesetzt worden war und die letzten Kriegsjahre im Bombenhagel auf den Harburger Hafen überlebte, hatte sich die mageren Jungen der Kriegsgeneration angesehen und nach Fußballschuhen gefragt. Keiner der Jungen hatte welche. Der Trainer hatte gesagt, dass es nicht schlimm sei und es für den Anfang auch mit den Straßenschuhen gehen müsste. Daraufhin waren die meisten der Jungen in schallendes Gelächter ausgebrochen und hatten auf die Füße von Heinz gezeigt. Da hatte der Trainer es auch gesehen. Heinz hatte Holzschuhe an! Sein einziges Paar Schuhe. Mit Holzschuhen sei Fußballspielen nicht möglich, hatte der Trainer gesagt.

Als Heinz den Tränen nahe den Übungsplatz verlassen wollte, war Michael auf ihn zugekommen und hatte ihm sein zweites Paar angeboten: „Ich laufe schnell nach Haus und hole die Schuhe“, hatte er gesagt und war gleich losgelaufen. Sie waren etwas zu groß, aber mit hineingestopftem Zeitungspapier passten sie einigermaßen, und Heinz konnte die erste Übungsstunde etwas verspätet mitmachen.

Nach dem Training waren sie am Wilhelmsburger Flakbunker zwischen Weimarer Straße und Rotenhäuser Damm vorbeigekommen. Ein dunkles riesiges Ungetüm, welches schon immer die Fantasie der Jungen befeuert hatte. Nach Kriegsende hatte die englische Besatzungsmacht vergeblich versucht, den durch Zwangsarbeiter errichteten Bunker mit den darauf befindlichen Flaktürmen zu sprengen.

Zu den ersten Kindheitserinnerungen von Heinz gehörte, dass 1944 nach der Einschulung, während eines Bombenalarms am dritten Schultag, den die Schüler im Keller der Grundschule verbrachten, eine Brandbombe im Dach der Schule einschlug.

Nachdem der Alarm vorüber war, hatte die Feuerwehr den Brand schnell unter Kontrolle bekommen. Nur ein Teil der Schule musste neu eingedeckt werden. Eine Woche später wurden neue Dachpfannen angeliefert. Selbst die Erstklässler mussten beim Hochtragen mit anpacken. So verging für die Schüler ein nicht enden wollender Schultag damit, Dachziegel vier endlos lange Treppen hochzuschleppen. Der dicke Schulleiter stand mit den Händen in den Hüften dabei, beaufsichtigte die Arbeiten und hielt die Schüler an, für jeden Gang nach oben zwei statt einen Ziegel zu tragen.

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