„Nicht so langsam, werte Gäste. Bleiben Sie nicht so lange im Tor stehen, Sie holen sich einen Schnupfen!“ Das war das Signal an die Wachtruppen, die Neuankömmlinge herein zu holen. Draußen stand der Bus und es gab kein Zurück. Der Blick nach vorn war für die meisten, die hierher kamen, ein Schock. Ein riesiger, unüberschaubarer Maschinensaal. Viel zu wenig Maschinen für viel zu viele Häftlinge. Hinter dem Maschinensaal öffnete sich das Gefängnis zu einer weiten trockenen Wüste. Die Wüste war am Tag unbarmherzig heiß und in der Nacht bitter kalt. Das Gefängnis lag an einem Ort, der bei der Zuteilung der Niederschläge ausgelassen wurde.
Der Schock, der die meisten befiel, kam nicht vom Anblick des Maschinensaals, sondern von dem Geruch, den der Saal ausströmte. Sameon arbeitete hier schon seit zehn Jahren. Aber er roch ihn immer noch. Er hatte Medizin studiert und hier das Trösten gelernt.
Eine Frau begann zu schreien. Eher wollte sie sich auf der Schwelle erschlagen lassen, ehe sie in diesen Mief reingehen würde. Jetzt begann die ganze Gruppe aufzubegehren. Das widerspricht allen Regeln der Hygiene!, beschwerte sich ein wirklich gutaussehender Alter. Das ist ein Ort, um Hautfäule zu kriegen. Sameon sah in seine Liste. Der mit den Regeln der Hygiene war ein Fall tätlicher Auseinandersetzung mit Todesfolge. Der Tageskommandant ist ein Sadist, dachte Sameon. Er ließ die Leute im Tor stehen, ließ in ihnen die Hoffnung aufkeimen, sie könnten mit ihrem Einspruch irgendetwas bewegen. Je länger sie dort standen, umso stärker würden sie sich gegen den Schritt über die Schwelle wehren. Und die Wachtruppen schreiten dann mit massiver Gewalt ein. Sameon musste anschließend denjenigen, die verletzt wurden, den nächsten Schock verpassen, denn es gab hier keinen Medikomp, keinen großen biologischen Reaktor, der gebrochene Arme wieder zusammenrechnete. Nicht einmal Blutergüsse konnten hier behandelt werden. Sameon erklärte den Betroffenen, wie lange es dauerte, bis die Hautverfärbung verschwunden war. Er schiente Knochenbrüche, und er vergab auch Schonplätze. Viel mehr konnte er nicht machen. Das war das Gefängnis. Wer es hier schaffte, jeden Tag ein oder zwei Stunden an einer Maschine etwas Sinnvolles zu tun, der bekam Essen und Wasser, wer mehr schaffte, der konnte sich waschen, und wer Punkte sammelte, der konnte Decken und Kleidungsstücke erwerben. Der Tag der Entlassung war jedem auf dem Arm eintätowiert, und über dem Tor hing eine große Uhr, die das Verstreichen der Tage, der Dekaden, der Sonnenwanderung und der Modurs anzeigte.
Jetzt endlich schien der Torkommandant genug von dem Entsetzen in den Gesichtern gesehen zu haben. Er befahl das Räumen, und es passierte genau das, was Sameon vorausgesehen hatte, es gab ein Handgemenge, der gutaussehende Alte riss einem Wächter den Schild aus der Hand und warf ihn in die Maschinenhalle, zwei weitere stürmten zurück zu dem Bus, die Frau bekam weiße Flecke im Gesicht, das sah ernst aus, und der Rest verkeilte sich ineinander, bildete einen festen Haufen, der sich nur mit brachialer Gewalt auflösen ließ. Jetzt musste Sameon einschreiten, denn sonst waren seine wenigen Schonplätze in wenigen Minuten ausgebucht. Er gab ein Zeichen mit der Faust an den Torkommandanten, der aber grinste nur breit und zeigte eine Acht mit den Fingern. Acht Minuten, Sameon, dann räumen wir.
Der verließ seinen Beobachterplatz, ging hinunter zum Tor und holte aus seiner Tasche einen Packen Kautabak. Er rollte ihn und bot ihn der Frau mit den weißen Flecken im Gesicht an. „Das Zeug ist verboten“, sagte die leise.
„Wer will Sie jetzt noch bestrafen, gute Frau, Sie sind schon bestraft, Sie sind schon ganz unten. Also genießen Sie es. Für zwanzig Punkte können Sie sich unten in der Halle eine Menge Kautabak besorgen, für die müssten Sie draußen vier Tage arbeiten. Nehmen Sie, das ist gut gegen die weißen Flecken, die Sie im Gesicht haben. Los, nehmen Sie schon!“ Er drückte der Frau ein kleines Stück in die Hand und wandte sich der verkeilten Gruppe zu. „Noch jemand, der vielleicht noch nicht probiert hat? Unten in der Halle gibt es auch jemanden, der zeigt ihnen, wie man aus Fruchtmus einen feinen, rauschigen Tropfen herstellt. Das ist eine andere Welt, das Gefängnis. Hier gibt es eine Menge zu entdecken!“
Einer der verkeilten Männer nutzte den Rückenhalt, um nach Sameon zu treten.
Sameon wich aus und schüttelte nur mit dem Kopf. „Halt, halt, mein Freundchen, wenn du mal deine Finger in einer Maschine drin lässt, dann brauchst du sicher jemanden, der dann deine Hand rettet. Das bin ich. Also, lass die Füße unten. Ich könnte mich an dein Gesicht erinnern und gerade dann keine Narkotika finden. Und jetzt lasst den Blockademist. Nehmt euch was von dem Kautabak, dann riecht die neue Welt gleich viel freundlicher.“
Die zwei Männer, die zum Bus zurückgerannt waren, kamen jetzt unfreiwillig zurück, mit verdrehten Armen und verbissenen Gesichtern. Das half. Sameon verteilte langsam seinen ganzen Vorrat an Kautabak und führten die Leute sanft über die Schwelle. Über die Spielregeln unten im Maschinensaal würden sie schon rechtzeitig von den anderen Gefangenen belehrt werden. Das Klima im Saal war gar nicht so schlecht, wie es beim ersten Ansehen wirkte. Es gab Leute, die sich gegenseitig halfen, und es gab solche, die von allen respektiert wurden. Zu denen gehörte Sameon Rauka. Er konnte viel zu wenig als Arzt tun, deshalb ging er umher und versuchte, allem, was echte Arztpflichten fordern würde, vorzubeugen. Dazu gehörten Infektionskrankheiten genauso wie Streitereien. Das Tor schlug zu, Sameon stieg hoch in die Wachkammer und stellte den Torkommandanten.
„Alfo, das machst du keine zwei Mal mehr, wenn ich Dienst habe! Ich habe keinen Tabak mehr.“
„Das war auch der Sinn der Übung. Du solltest deinen restlichen Vorrat sinnvoll verwenden, bevor du ihn vielleicht draußen in irgend ein Klo schmeißen musst.“
„Das verstehe ich jetzt nicht. Ich habe noch nie ein Gramm Tabak kaputt gehen lassen!“
„Dann lies erst mal dieses kleine Briefchen!“
„Wer hat den denn mitgebracht?“
„Sie stehen draußen. Du sollst deine Angelegenheiten sortieren und morgen früh nach Simapi fliegen. Sie warten sogar so lange. Was steht denn drin in dem Brief? Du siehst aus wie die Frau vorhin am Tor.“
Sameon gab dem Kommandanten zur Antwort den Brief.
„Vorgesehen für noch nicht näher zu definierende Aufgaben. Der Zeitraum der Abordnung beginnt morgen und endet nach Erfordernis“, las der Kommandant vor. „Sameon, so stolpert man die Karrieretreppe nach oben!“, sagte er und ließ seine breite Hand auf Sameons Schulter fallen.
„Ich weiß nicht weshalb? Ich weiß nicht mal, was ich falsch gemacht habe? Ich kann hier nicht einfach weg. Ich kann nicht einfach alles liegen und stehen lassen?“
„Sameon, du hast eine Einladung vom großen Lakolar persönlich und das bedeutet, dass sich die Torwache um Ersatz für deine Arbeit kümmert. Er wird dir schon sagen, weshalb er dich jetzt woanders braucht. Wir halten dein Zimmer warm. In Ordnung! Wenn irgendwas schief geht, kannst du dir ja unter deinen Freunden unten im Saal einen Platz suchen!“
Es sollte ein Wort zur Aufmunterung sein, aber Sameon war noch zu sehr geschockt, um den Schritt über die Schwelle zu tun. Er würde bis morgen diesen Schock aushalten müssen. Besser wäre es gewesen, sie hätten ihn sofort mitgenommen.
XV.
Rotam saß mit Sell in einem Straßencafé im Zentrum von Simapi, eigentlich wollte er heute mit seiner Mutter feiern, er hatte die Zusage für sein Studium bekommen. In seiner Jackentasche lag ein Zeitplan und eine Liste von Vorbereitungslehrgängen, er wollte so viel mit ihr besprechen, in der gelösten Atmosphäre dieses Cafés, und vielleicht ein wenig von dieser Zweisamkeit und dem stillen Verständnis herstellen, das bis zu jenem verhängnisvollen Abend in der Sporthalle zwischen ihnen bestanden hatte. Rotam wollte, dass sie in Frieden in die Zukunft gingen und sich endlich wieder in die Augen schauen konnten.
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