Ein fünftes Mal mischte sich deshalb das Jugendamt in mein Leben ein und orderte mich ab. Traurig verließ ich die Handelsschule und ihre Besitzerin. Ich hatte mich hier wohl gefühlt, und das Lernen hatte mir Spaß gemacht. Zunächst wurde ich in einer Familie in Heidelberg untergebracht, doch schon nach drei Tagen kam ein Anruf des Jugendamtes, ich solle sofort ins Amt kommen. Dort erwartete mich eine große Überraschung. Eine Frau Elfriede Weber hatte sich beim Jugendamt gemeldet. Diese Elfriede Weber, berichtete mir das Jugendamt, hatte schon einmal für mich gesorgt, als ich im Alter von zwei Jahren meiner Mutter weggenommen worden war. Es war kurz nach der Kristallnacht gewesen, mein Vater war bereits verschwunden, meine Großmutter nicht verfügbar. Ich war damals zunächst in die Obhut von Elfriede Weber, später dann in ein Heim für jüdische Kinder gekommen.
Elfriede Weber hatte durch Zufall über Bekannte vom Tod meiner Großmutter erfahren und deshalb beim Jugendamt nach mir gefragt – und dies genau in der Zeit, als keiner so recht wusste, wohin mit mir. Nach Absprache mit Frau Weber, die inzwischen eine ältere Dame war, wurde also beschlossen, dass ich nun erst einmal zu ihr ziehen dürfe.
Nach meiner Großmutter war Elfriede Weber der zweite Engel in meinem Leben. Bei ihr erfuhr ich eine Wärme, Geborgenheit und Nähe, wie selten zuvor und selten danach. Ich ging in der Zeit bei ihr weder zur Schule noch musste ich arbeiten. Vielmehr verbrachte ich dort nicht enden wollende Ferien. Ich half ein bisschen im Garten, im Haus, wir gingen gemeinsam spazieren, ich las viel - und ganz besonders erinnere ich mich an die Abende, an denen wir gemeinsam auf dem Sofa saßen und Radio hörten. Ich durfte mich an diesen Abenden an sie anlehnen oder meinen Kopf in ihren Schoß legen, während sie mir immer wieder leicht durchs Haar strich. Diese Momente waren wie ein wärmender Mantel und folgende Worte, die sie immer wieder zu mir sagte, pflanzten sich tief in mir ein: “Du wirst sehen, mein Kind, alles wird gut!”
Nach einem dreiviertel Jahr sollte aber auch diese Zeit der puren Erholung für mich ein Ende haben. Zum sechsten Mal bestimmte das Jugendamt meinen kommenden Weg. Ich war inzwischen 16 ½ Jahre alt und man hatte beschlossen, es wäre an der Zeit für mich zu arbeiten. Der Abschied von ‘Mutter Elfriede’, wie ich sie inzwischen nannte, war sehr traurig. Bis zu ihrem Lebensende sollten wir aber den Kontakt nicht mehr verlieren.
Zunächst ging meine Reise wieder in die Nähe von Heidelberg, genauer nach Wiesloch. Dort gab es zu dieser Zeit eine große Psychatrie, wobei auch die dort arbeitenden Ärzte in der Umgebung rund um das Krankenhaus lebten. Bei einer dieser Arztfamilien wurde ich eingesetzt, wobei es meine Aufgabe war, im Haushalt zu helfen und die Kinder der Familie mit zu betreuen. Ich bekam mein eigenes Zimmer, ordentliches Essen und zu meiner Begeisterung einmal im Monat mein erstes Taschengeld - 25 Mark, ein Betrag, der mir immens erschien. Auch von Familie Schuster mit ihren drei Kindern wurde ich sehr freundlich, wenn auch distanziert, aufgenommen. Einmal in der Woche durfte ich in die Schule gehen. Als ich eines Tages das Herrenzimmer säubern sollte, staunte ich nicht schlecht. Ich stand vor einer Bibliothek, die die ganze Zimmerwand für sich in Anspruch nahm. Ich war beeindruckt.
Durch Zufall entdeckte mich Frau Schuster und fragte mich schmunzelnd: “Liest Du etwa gerne?”
Mit einem fast jauchzenden “Ja” antwortete ich ihr. Frau Schuster erlaubte mir, ein Buch aus dem Regal mit aufs Zimmer zu nehmen. Ich erinnere mich noch genau an die Situation. Nach dem Zufallsprinzip zog ich ein Buch aus den langen Reihen: “ Heinrich Fallada. Wer einmal aus dem Blechnapf frisst”
“Da hast Du aber gut gewählt.”, kommentierte Frau Schuster meine Wahl. Das Buch hatte ich an nur wenigen Abend durchgelesen, doch es sollte nicht bei diesem einen bleiben. Ich durfte ein Buch nach dem anderen aus der Bibliothek ausleihen, welches ich dann an den Abenden und in den Nächten in meinem Zimmer las.
An einem meiner freien Tage kaufte ich mir mein erstes selbst ausgewähltes Paar Schuhe, ansonsten ging ich in den Sommertagen oft ins Schwimmbad, wobei ich, seitdem es mir, inzwischen nach mehreren Operationen und anstrengendem Balettunterricht ohne Beinschiene, wieder möglich war, das Schwimmen sehr liebte. Ja, ich hatte eine gute Zeit.
Insgesamt lassen sich meine Jugendjahre im wahrsten Sinne des Wortes als Lehr- und Wanderjahre beschreiben. Ich nahm all die Veränderungen mit Neugier an und fürchtete mich nie. Nie konnte es mir schlimmer ergehen als in den Jahren meiner frühesten Kindheit, in den Jahren mit meiner Mutter - davon war ich überzeugt. So ging ich aufgeschlossen auf jede neue Aufgabe zu und fand mich in jedem neuen Zuhause ein. Es kam nie zum Stillstand, ging immer voran und es gab immer etwas zu lernen. So machte ich aus jeder Lebenslage und -situation das Beste - in tiefem Gottvertrauen, dass alles zu meinem Guten ist und alles gut wird.
Was ich bisher nicht gelernt hatte, war, für mich selbst Entscheidungen zu treffen, es war ja immer alles für mich entschieden worden. Wie wichtig es im Leben sein kann, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, lernte ich erst mühsam in den kommenden Jahren.
An einem meiner freien Tage, es waren die ersten schönen Sommertage des Jahres 1952, hatte ich es mir gerade auf meiner Decke im Schwimmbad bequem gemacht und ein Buch aufgeschlagen, da kamen zwei junge Männer, vielleicht ein, zwei Jahre älter als ich, auf mich zu und stellten sich als Gerd und Friedrich vor. Sie verwickelten mich in ein Gespräch über das Buch, das ich gerade las, und bald saßen wir Decke an Decke. Wir verstanden uns auf Anhieb und verbrachten schließlich den gesamten Nachmittag gemeinsam. Wir gingen schwimmen, schlenderten über die Wiesen und quatschten, und am Ende des Tages verabredeten wir uns wieder. Einen ganzen Sommer lang traf ich mich an jedem freien Tag, der mir zustand, mit den beiden und im Laufe der Zeit wurden wir richtig dicke Freunde. Wir waren ein schönes Dreierteam, gingen gemeinsam ins Freibad oder Eisessen und die beiden jungen Männer waren nie zudringlich zu mir, zeigten aber freundliches Interesse. Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, erinnere ich einen wunderschönen, unbeschwerten Sommer, wobei es gegen Ende des Sommers zwischen mir und Gerd ein bisschen zu knistern begann. Eines Nachmittags, an einem meiner freien Tage, kam Friedrich mit seinem Roller bei Familie Schuster vorgefahren. Frau Schuster, der ich von den jungen Männern erzählt hatte, bat ihn ins Haus. Mir war die Situation zunächst etwas peinlich und ich genierte mich, doch ich lud Friedrich, der einen sehr traurigen Eindruck machte, in die Küche auf eine Tasse Kaffee ein. Dort angekommen brach es aus ihm heraus: “Gerd ist gestorben.” Mir wurde schwarz vor Augen. Ich musste mich setzen. Friedrich erzählte mir, dass sein Freund Gerd ganz plötzlich und unerwartet im Haus seiner Mutter, gerade von der Arbeit zurückgekehrt, an Herzversagen verstorben war. Ich benötigte einige Zeit, bis ich seine Worte fassen und wieder klar denken konnte. Als Frau Schuster nach einer Weile zu uns in die Küche kam und mich kreideblass, wie ein Häufchen Elend dasitzen sah, schickte sie uns, nachdem wir sie über das Geschehene informiert hatten, los, doch ein bisschen spazieren zu gehen, um frische Luft zu schnappen und auf andere Gedanke zu kommen.
Das taten wir. Und wir hielten den Kontakt. Immer wieder holte mich Friedrich nun an meinen freien Tagen ab. Unser Zusammensein war anders ohne Gerd, seltsam, doch die Trauer um ihn verband uns. Zudem liebten wir beide Bücher und fanden darin eine Ebene, auf der wir uns austauschen konnten. Mit der Zeit verspürte ich Besitzansprüche von Seiten Friedrichs, als hätte sein Freund Gerd mich nun an ihn abgetreten. An einem meiner freien Nachmittage organisierte er ohne mein Wissen mit meiner Chefin, mich etwas später nach Hause zurückzubringen, da er mich mit zu seiner Mutter nehmen wolle. Frau Schuster stimmte zu – und ich, ich ließ wie gewohnt geschehen. Ich nahm das, was mit mir passierte, mit Neugier und Offenheit auf und hin, immer interessiert, wie es wohl weitergehe, ganz so als wäre ich selbst die Protagonistin eines Romans, den ich gerade lese und würde gespannt die kommende Seite aufschlagen. So war es auch an diesem Nachmittag. Gemeinsam mit Friedrich fuhr ich zu seiner Mutter und seiner Schwester Else in die Wohnung, in der auch Friedrich lebte, nach Schwetzingen, und er stellte mich dort mit folgendem Satz vor: “Das ist die Frau, die ich heiraten werde.”
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