Während meine Mutter nun im Schlafzimmer ihr Krankenbett stehen hatte, schlief ich im Wohnzimmer auf der Cordcouch, meine Großmutter auf dem Boden und meine kleine Schwester in ihrem Bettchen. So verging die Zeit und meine Mutter wurde immer schwächer; irgendwann bekam sie Morphium und war von da an nicht mehr wirklich ansprechbar.
Eines Tages schließlich kam ich von der Schule nach Hause, ich war inzwischen 14 Jahe alt und meine Großmutter saß weinend am Wohnzimmertisch. “Deine Mutti ist gestorben.”, sagte sie unter Tränen zu mir. Ich ging in ihr Schlafzimmer. Die letzte Erinnerung an sie: eine unschöne, zermarterte Gestalt – tot.
Und da stand ich und begann zu lachen. Ich lachte hysterisch, lachte und konnte nicht aufhören damit, auch am nächsten Tag nicht, als meine Großmutter auf einfachste Weise eine Trauerfeier für meine Mutter organisiert hatte. Ich lachte und lachte und lachte, tagelang – bis meine Großmutter mir eine scheuerte. Da stoppte das Lachen, und während sie mich in die Arme nahm, schluchzte ich auf und endlich flossen die Tränen.
Kurze Zeit nach dem Tod meiner Mutter besuchten uns ferne Bekannte von ihr, deren Tochter keine eigenen Kinder bekommen konnte. Nach Absprache mit meiner Großmutter nahmen sie meine Halbschwester als Pflegekind in ihre Familie auf. So war ich schließlich mit meiner Großmutter alleine. Doch leider sollte diese Zeit nicht lange andauern – genau ein Jahr. Als ich 15 war, erkrankte auch meine geliebte Großmutter. Alles ging sehr schnell. Sie hatte Krebs im fortgeschrittenen Stadium, kam ins Krankenhaus und starb dort nur wenige Wochen später. Im Augenblick ihres Todes war ich bei ihr.
Was ist der Tod, frage ich mich...
Für mich bedeutet der Tod das andere Leben.
In den jungen Jahren meiner Kindheit ,in denen ich häufig durch den Krieg mit dem Thema Tod in Berührung kam, machte ich mir keine wirklichen Gedanken um ihn. Er war für mich ein selbstverständlicher Bestandteil des Lebens. Beim Tod meiner Mutter kam ich das erste Mal direkt mit ihm in Berührung. “Ist das alles?”, fragte ich immer wieder den toten Körper, der da vor mir lag: “Ist das alles?” Ich bekam keine Antwort. Und es mag hart klingen, doch der Tod meiner Mutter war für mich eine Art Erlösung.
Die zweite Begegnung mit dem Tod, das Sterben meiner Großmutter, war eine ganz andere Erfahrung. Das Abschiednehmen ihrer Seele von dieser Erde empfand ich als großen Verlust, als hätte man ein Stückchen meiner selbst abgesägt. Ein Stück, das immer fehlen sollte. Und bei jedem weiteren geliebten Menschen, der in späteren Jahren von mir gehen sollte, ging es mir ähnlich.
Doch ganz verloren war meine Großmutter mir auf meiner weiteren Lebensreise nicht, immer wieder kommunizierte ich mit ihr in Gedanken - und oft schien es mir, als würde ich sie von weitem irgendwo auf der Straße vor mir laufen sehen oder sie in einer Menschenmenge entdecken.
Viele, viele Jahre später hatte ich durch eine Tetanusinfektion eine Nahtoderfahrung - ich war für wenige Minuten tot, ehe es den Ärzten gelang, mich wieder ins Leben zurückzuholen. Seitdem habe ich keine Angst mehr vor dem Tod. Er ist für mich eine weitere Reise, ein weiterer Ortswechsel, wie ich sie vielfach in meinem Leben unternommen habe. Eine Reise in ein Land, das ich noch nicht kenne. Es ist die große Reise in ein anderes Leben, das keine Schmerzen kennt, weder innen noch außen.
Ich sitze in einem meiner Lieblingskaffees im Zentrum von Ermioni. Hierher zieht es mich jeden Morgen nach einem kurzen Spaziergang durch den schattigen Pinienhain. Oft begegne ich hier am Hafen auch anderen Bewohnern des Dorfs, die an den Vormittagen Zeit haben. Dann sitzen wir gemütlich bei einer Tasse Kaffee zusammen, genießen die griechische Sonne und ich erfahre die Ereignisse vor Ort der letzten Tage.
Ganz selten sitze ich aber auch alleine hier und nippe an meinem Kaffee. So heute, doch das kommt mir gelegen, denn ich habe gerade kein Ohr für die Neuigkeiten der Umgebung. Seit der seltsamen Begegnung vor wenigen Tagen in Nafplion, der ich vielleicht mehr Bedeutung zuweise, als ihr zusteht, geht mir so einiges durch den Kopf. Sequenzen meines inzwischen 78 Jahre langen Lebens laufen wie ein Schwarz-weiß-Film, der schon lange, lange nicht mehr gespielt wurde, vor meinem inneren Auge ab. Während ich nachdenklich dasitze, klopfst Du überraschend auf den Tisch. “Hey, guten Morgen, hast Du geträumt?”
Ich lächle Dich erfreut an. Welch ein Zufall? Ja, Dich fühle ich gerade richtig hier für mich. Und Du, die Du eigentlich um diese Uhrzeit nie die Ruhe für einen Kaffee hast und mich auch nie bei meinem Morgenspaziergang begleitest, setzt Dich zu mir.
“ Was bewegt Dich?”, fragst Du mich auch gleich ganz direkt - und ich beginne zu erzählen. Ich erzähle Dir von der seltsamen Begegnung in Nafplion, die mich zu den unterschiedlichsten Spekulationen verleitet.
Du sitzt da und schaust mich ernst an: “Ja, diese Frau solltest Du einmal aufsuchen.”, bekräftigst Du mich in meiner fixen Idee. Und es ist, als öffnetest Du damit all die Tore meiner Gedanken und Erinnerungen, die mir seit den letzten Tagen durch den Kopf gehen. Gedanken werden zu Worten und entschlüpfen meinem Mund. Ich beginne zu erzählen, von Anfang an, vom Beginn meines Erinnerns. Mit konzentriertem Blick hörst Du zu und unterbrichst mich nicht – nur wenn ich stocke, fragst Du nach. Und als ich Dir schließlich all meine Kindheitserinnerungen wiedergegeben habe, bist Du noch nicht müde geworden. Du forderst mich stattdessen auf fortzufahren und weiterzuerzählen.
Ich war schon von klein auf ein sehr “widerborstiges” Kind, wie mir immer gesagt wurde - und je älter ich wurde, um so eigensinniger wurde ich und lernte, das Leben zu nehmen wie es kam und mich durchzuschlagen.
In der Schule, einem Jungengymnasium, wurde ich von meinen Mitschülern und auch von meinen Lehrern respektiert, obwohl ich das einzige Mädchen in der Klasse war, eine Beinschiene tragen musste und humpelte und trotz, dass ich sehr zierlich war.
Ich war ein aufmüpfiges, neugieriges und selbstbewusstes Mädchen. Und ich war eine sehr gute Schülerin und liebte die Schule, wobei meine Glanzleistungen meinem Fleiß, vor allem aber meiner Neugier und meiner Wissbegier zu verdanken waren. Durch meine Verletzungen konnte ich keinen Sport treiben, über viele Jahre nicht schwimmen; so verbrachte ich meine gesamte freie Zeit mit Lesen, wobei schon damals mein Motto war: “Alles was gedruckt ist, ist für mich gedruckt.”
Gleichzeitig hatte ich einen eigenen, manchmal sehr störrischen Kopf. Deshalb wäre ich zweimal fast von der Schule geflogen. Einmal hatte ich eigenwillig für mich entschieden, den gängigen Kleidungsstil für Mädchen abzulegen. Ich schnitt mir die langen Zöpfe ab - und statt des erwarteten Rockes trug ich Jeans und T-Shirt, welche mir meine amerikanische Freundin Judy vermacht hatte. Die Lehrer nahmen meinen Aufzug mit hochgezogenen Augenbrauen hin, doch in der Pause kam es schließlich mit einem Jungen aus der Parallelklasse, der mich hänselte, zur Rangelei.
Wir wurden beide zum Direktor gerufen und ein Verweis von der Schule stand zur Debatte. Am nächsten Tag sollte das gesamte Lehrerkollegium darüber abstimmen. Wir warteten nervös vor der Tür auf das Ergebnis der Abstimmung. Durch die Tür hörte ich meinen Klassenlehrer argumentieren: “Wenn sich unsere Schule erlauben kann, die Schulbeste zu schmeißen, wo kommen wir da hin?“
So kam ich schließlich mit einer schriftlichen Verwarnung und einem Brief an die ‘Eltern’ davon.
Die zweite Abmahnung war weniger dramatisch. Der in der Nachkriegszeit aufkommende Traum eines vereinten Europas begeisterte auch mich - und ich äußerte diese Meinung durch den erworbenen grün-weißen EU-Wimpel, den ich stolz vorne an meinem Fahrrad befestigte und es so auf dem Schulhof abstellte. Da es zu dieser Zeit verboten war, Politisches im Rahmen der Schule zu äußern, wurde ich verwarnt. Ich wurde aufgefordert, den Wimpel zu entfernen, sonst hätte es schwerwiegende Konsequenzen für mich. Ich entschied mich natürlich für die Entfernung des Wimpels. Die Möglichkeit des Schulbesuchs war mir heilig.
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