Wir wollten dieses Buch natürlich in der Schule verkaufen, und dazu brauchten wir die Genehmigung des Schulleiters. Nach ein paar Katastrophen mit früheren Abibüchern, in denen einige Lehrer übel beleidigt worden waren, hatte sich der Schulleiter ausbedungen, die Bemerkungen über die Lehrer vorher durchzulesen, wenn er den Verkauf in der Schule erlauben sollte. Wir hatten zwar im Abibuchausschuss die übelsten Beleidigungen bereits gestrichen, konnten aber nicht alles streichen, weil sonst bei einigen Lehrern überhaupt nichts übrig geblieben wäre. Das waren aber ausgerechnet die, über die die Schüler am meisten geschrieben hatten. Natürlich war der Schulleiter nicht überrascht, als er aus den übrig gebliebenen Bemerkungen über einige Lehrer erfuhr, was für Luschen es sich in seinem Kollegium bequem machten. Der Mann ist ja nicht blind. Er tat aber pflichtgemäß entsetzt. Da ihm, wie er uns erzählte, im letzten Jahr schon einige Kollegen angedroht hatten, sich wegen Verletzung seiner Fürsorgepflicht bei der Bezirksregierung über ihn zu beschweren, strich er noch einige Beleidigungen raus. Damit aber überhaupt noch etwas stehen blieb, bat er uns, uns ein oder zwei positive Bemerkungen aus den Rippen zu schneiden, was wir denn auch ihm zu Gefallen taten. Das waren Bemerkungen von der Sorte „kommt immer pünktlich zum Unterricht“, „erzählt gute Witze“, „hat immer schöne Schuhe an“ oder „ist mütterlich“, „hat eine kluge Tochter“. Trotzdem sind natürlich einige Lehrer nicht zum Abiball erschienen. Wir haben ihnen aber keine Tränen nachgeweint, sondern waren froh, sie nicht mehr zu sehen.
Zurück zum Abiball. Frau Grefrath kam noch an unseren Tisch, um sich von meinen Eltern zu verabschieden. Sie sagte, sie freue sich, dass ich auch Lehrerin werden möchte, weil ich bestimmt eine gute Lehrerin werden würde, und dass meine Eltern stolz auf mich sein könnten. „Das sind wir“, sagte mein Vater und meine Großeltern stimmten zu. Meine Mutter guckte immerhin so freundlich, dass man hätte meinen können, sie freue sich auch. Mich packte die ganze Szene natürlich so, dass mir die Tränen kamen, als ich Frau Grefrath zum Abschied umarmte. „Melde dich mal, wenn du wieder da bist“, sagte sie nur.
So gegen zwölf verschwanden dann die Lehrer und die Eltern mit den kleineren Geschwistern. Zurück blieben nur die Abiturienten und ihre Freunde, also die ehemaligen und die künftigen Abiturienten und die aktuellen Liebhaber oder Verehrer. Als das Lokal so gegen vier geschlossen wurde, machten die meisten noch einen Spaziergang durch die Heide, obwohl die Tanzschuhe, die wir anhatten, kaum für Wanderungen geeignet waren. Es war trotzdem schön. Obwohl Christopher auch mitging, hielt ich mich an Henning. Schließlich war er mein offizieller Begleiter und den konnte ich doch nicht allein herumlaufen lassen. Aber es war sowieso kein Problem, weil Christopher sich die meiste Zeit uns anschloss. Caro und Teresa wollten noch die Einzelheiten ihrer geplanten Australienreise besprechen. Gegen sechs trafen wir im „Waldfrieden“ ein, wo wir uns für ein Frühstück angemeldet hatten. Um acht sank ich glücklich ins Bett.
Die einzige Abiarbeit, die etwas enttäuschend endete, war die in Deutsch. Ich bekam acht Punkte. Das war keine Katastrophe, aber ich hatte mehr erwartet, weil mich das Gedicht, das ich zu interpretieren hatte, emotional berührt hatte. Diese Emotion war auch der Grund, weshalb ich das Thema gewählt hatte und weshalb das Ergebnis so dürftig war. Es ging um das Gedicht „Sachliche Romanze“ von Erich Kästner. Darin wird ein Pärchen beschrieben, das sich seit acht Jahren kennt und das eines Tages feststellt, dass „ihnen die Liebe plötzlich abhanden gekommen ist wie anderen Leuten ein Stock oder Hut“. Sie sitzen wortlos in einem Cafe´, rühren in ihren Tassen und können einfach nicht verstehen, warum sie sich nichts mehr zu sagen haben. Ich fand das Gedicht maßlos traurig, obwohl es keinen lauten Streit gibt, die Frau nur ein bisschen weint und die Sache ganz lakonisch in lockeren Versen erzählt wird. Vielleicht war es das, dieses Lakonische, was mich besonders traurig machte. Dass die Liebe wie ein alltäglicher Gegenstand verloren geht, ist doch fürchterlich.
Vielleicht hat mich das Gedicht gerade deshalb so angesprochen, weil Gesa dieselbe Sache passiert ist. Eines Tages hat sie festgestellt, dass ihr Nico, mit dem sie seit Kindertagen befreundet und seit Jahren liiert war, nichts mehr bedeutete. Die beiden galten als unzertrennliches Pärchen, und abgesehen davon, dass Nico wegen Gesas Fahrten nach Hamburg zu den Modeaufnahmen ein wenig eifersüchtig war, gab es nie Streit zwischen den beiden. Aber eines Tages sagte mir Gesa, sie wisse wirklich nicht mehr, weshalb sie mit Nico zusammen sei. Sie könne sich auch nicht mehr daran erinnern, dass sie ihn einmal geliebt habe. Eigentlich sei es nur eine Gewohnheit wie das morgendliche Frühstück, dass sie ihre Zeit mit Nico verbringe und mit ihm schlafe. Sie hatte aber Hemmungen, Nico das Ende der Beziehung zu erklären. Nico hatte sich eigentlich nichts zuschulden kommen lassen. Deshalb hatte sie Schuldgefühle und wusste nicht, was sie sagen sollte. Ich hätte ihr eigentlich gerne gesagt, dass das Ende ihrer Liebe nun einmal eine Tatsache sei und dass sie daraus die Konsequenzen ziehen solle. Ich wollte mich aber vorläufig nicht in die Angelegenheit zwischen den beiden einmischen. Vielleicht war es ja nur eine Krise, die bald wieder vergessen war, und grundsätzlich bin ich ja auch dafür, dass man um eine Liebe kämpft und nicht einfach aus Lust und Laune die Flinte ins Korn wirft. Ich habe mich aber vor allem deshalb zurückgehalten, weil ich nie verstanden habe, weshalb Gesa überhaupt jemals in Nico verliebt war.
Nico war für mich immer ein mittelmäßiges Nichts: Er war mittelmäßig nett, mittelmäßig intelligent, mittelmäßig fleißig, mittelmäßig blond und mittelmäßig hübsch. Wäre er nicht mit Gesa befreundet gewesen, hätte ich ihn nie bemerkt. Er gehörte zu den Leuten, die man schon vergessen hat, bevor sie die Tür hinter sich zugemacht haben. Ich überließ es also Gesa, sich über ihre Gefühle klar zu werden. Es dauerte zwei Wochen, in denen sie immer wieder neue Ausreden erfand, um sich nicht mit Nico zu treffen, bis sie ihm erklärte, dass sie nichts mehr für ihn empfinde. Sie flüchtete auch nicht in die heute übliche Beschwichtigungsformel, dass sie weiter Freunde bleiben würden, weil sie noch nicht einmal Freundschaftsgefühle für ihn empfand. Sie empfand einfach nichts.
Nicos Reaktion überraschte mich. Ich hatte erwartet, dass er die Sache hinnehmen würde wie einen verlorenen Stock oder Hut; aber Nico kämpfte und er litt. Er wollte von Gesa eine Erklärung haben, er machte ihr idiotische Vorwürfe und er war völlig neben der Spur. Er konnte nicht schlafen, hing wie ein nasser Sack in der Schule herum, belästigte Gesa mit Anrufen, beklagte sich bei ihrer Mutter und heulte sogar mir was vor. Was Gesa denn bewogen hätte, mit ihm Schluss zu machen, wollte er von mir wissen. Was er denn falsch gemacht habe? Zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich so etwas wie Sympathie für ihn. So viel Leidenschaft hätte ich ihm nie zugetraut. Man hört ja, dass Männer häufig gar nicht merken, dass in der Beziehung nichts mehr läuft und dass dann die Frauen eine Aussprache suchen und die Männer ganz erstaunt sind, weil sie kein Problem sehen. Solange sie eine Frau oder Freundin haben, die ihnen die Zeit vertreibt und als Betthäschen dient, finden sie alles in Ordnung.
Jedenfalls habe ich in meiner Stellungnahme zum Gedicht von Kästner geschrieben, dass das Ende der Liebe meist nicht von beiden Personen gleichzeitig empfunden wird, sondern dass meist einer keine Liebe mehr fühlt und der andere dann klammert und leidet. Das ist zwar nach wie vor meine Meinung, das tat meiner Arbeit aber nicht gut. Denn im dritten Teil der Arbeit sollten wir das Gedicht von Kästner mit dem Gedicht „Ach, Liebste, lass uns eilen“ von Opitz vergleichen. In diesem Gedicht fordert der Liebhaber seine Freundin auf, bald loszulegen, weil mit dem Alter die Attraktivität abnimmt und dann nichts mehr läuft. Weil ich mich aber in Gesas Geschichte so hineingesteigert hatte und meine Erkenntnisse über das Ende einer Liebe dargelegt habe, kam ich kaum noch zu Opitz, und deshalb bekam ich für die letzte Aufgabe nur vier Punkte, was dann die Endnote von elf auf acht Punkte heruntergezogen hat.
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