Schulte war von dem neuen Thema, das da so unvermittelt in sein Leben getreten war, ziemlich gefangen; er spürte die zunehmende freudige Erregung und antwortete emphatisch: Kennenlernen? Ja, klar doch, unbedingt, unverzüglich! Und teilnahmsvoll: Traurig, das mit Reginas Krankheit - schade, sie nun nicht wiedersehen zu können. Und entrüstet fortfahrend: Aber wie konnte sie mir Ihre, nein, deine Existenz vorenthalten(!) - ich hätte doch in die Geburtsurkunde gehört - schon um der Dokumentation Ihrer … äh … deiner vollständigen Identität willen … gegenüber dem Staat und so, meine ich … zum Beispiel … wäre gern irgendwie beteiligt gewesen. Und klagend endend: Bande hätten geknüpft und irgendwie aufrechterhalten werden müssen - wenn Regina zum Beispiel etwas passiert wäre - und was war mit männlichen Bezugspersonen - spielten wenigstens irgendwelche Vorbilder eine Rolle? Friederike konnte ihn beruhigen: Ja, ja doch, der eine oder andere Sporttrainer, ein wenig auch der Bürgermeister, ja, auch der. Und was sei mit ihm, Schulte, wie lebe er so? Nun ja, seit drei Jahren allein … mit Cordula damals Schluss gemacht … so zehn Jahre bei der UNO: New York, Genf, Mexiko-Stadt, Manila, Jakarta … danach Bonn: Referent in einem Bundesministerium … dann London: Berater für politische Kommunikation bei einem Lebensmittelkonzern … dann Berlin: Zwischenspiel in politischer Redaktion eines TV-Nachrichtensenders … endlich zurück an die Uni … Professur. Familie? Nein. Beziehungen? Ja, schon, aber - wie schon gesagt - seit drei Jahren allein. Einzig Forschung und Lehre bestimme momentan sein Dasein. Kinder? Nein … äh … das heißt ja … ja doch.
Der Dialog ging dann noch ein wenig weiter: zur DNA-Analyse, wenn gewünscht, sei sie bereit … und bloß nicht, dass er denke, sie wolle Geld … und wär‘ schon toll, der reputierlichen Pariser Verwandtschaft, wenn sie im Sommer heirate, wenigstens ein bisschen Familie präsentieren zu können. Schulte wehrte ab: DNA-Test? I wo, wozu denn, die Paternität sei ja völlig unstrittig. Und einer Einladung zur französischen Hochzeit werde er gegebenenfalls folgen? Nun ja, man werde sehen. Was sie denn an den Weihnachtstagen mache? Nun ja, Thierry sei bei den Eltern in Paris und ab morgen früh auf einem Flug nach La Réunion. Aha, was sie denn davon halte, wenn sie sich kurzfristig - also relativ spontan - in Frankfurt träfen, vielleicht am Zweiten Weihnachtstag? Gleich morgen, sei ja wohl zu hektisch. Okay, okay! Wenn Sie … pardon … wenn du so flexibel bist? Super! Morgen würde Schulte seine Ankunftszeit am Bahnhof durchgeben. Sie werde ihn erkennen, hatte sie gesagt, Bilder von ihm seien im Internet. Als er den Hörer weglegte, lag der Bindungsgrad zu Friederike auf der Schulte‘schen Skala, quasi unmittelbar aus dem Stand, bei 3 = angenähert; spannend die Frage, wo er am Ende seiner Reise nach Frankfurt zu platzieren wäre - 8 = intensiv?
Auf seine Mitteilung wartete Friederike vergeblich. Als sie am Vormittag des Zweiten Weihnachtstages noch kein Zeichen erhalten hatte und Schulte auch das Telefon nicht abnahm, war sie doch etwas irritiert. Sollte die neue Vaterschaft, kaum erweckt, schon wieder verflogen sein? Eigentlich ging sie bei Schulte nicht von flatterhafter Unzuverlässigkeit oder plötzlich hochgekommenem Widerstand aus. Nach allem, was sie wusste, war er ja auch nicht der unaufrichtige Typ, der zu allem Ja und Amen sagte und dann - wenn es darauf ankam - schnell das Weite suchte. Nein, irgendetwas Schwerwiegendes musste ihn zum Schweigen gebracht haben. War er aufgrund der Konfrontation mit der unbekannten Tochter, einem immerhin aufwühlenden Lebensereignis, nachträglich in Panik geraten? Hatte ihn eine emotionale Erschütterung mit Verzögerung gepackt, wodurch es zur totalen Handlungsblockade kam? Unwahrscheinlich bei diesem kontrollierten, die Situation bisher doch so souverän meisternden Individuum. Lag eine cortikale Funktionsstörung vor? Etwa in der Weise, dass Gehörtes sofort wieder vergessen wurde, quasi ein Versagen des Kurzzeitgedächtnisses, Symptom einer Demenzerkrankung? Eher abwegig, Schulte schien doch topfit. Oder hatte er sich von jemandem beeinflussen lassen? Von einem Freund oder so: Unbewiesener Quatsch, sei nicht so naiv! Lass dich nicht auf sowas ein! Die will Geld - rückwirkend Alimente für ein Vierteljahrhundert oder sowas, Erbansprüche anmelden und so! Nein, für solch ein willenloses, fremdbestimmtes Subjekt wollte sie ihn auch nicht halten. Aber was war passiert? Ein Unfall? Lag er schwer verletzt im Krankenhaus, vielleicht im Koma? Eine plötzliche Erkrankung? Niedergestreckt von einem Herzinfarkt, einem Schlaganfall? Verhaftet? Geflohen? Opfer eines Verbrechens? Sich nach Alkoholabsturz mit Filmriss noch nicht wiedergefunden? Im Bann einer aufregenden Frau, die als spontaner Weihnachtsgast hereingeschneit war?
Was konnte sie tun? Der dünne Strick, den sie Schulte zugeworfen hatte, war nur das erste Bauteil einer von beiden zu konstruierenden gangbaren Seilbrücke, über die sie vielleicht näher zueinander finden könnten. Hatte er nun aber, kaum dass der Beziehungsaufbau begonnen hatte, sein Ende des Stranges schon wieder fallengelassen? Das würde ja heißen: Schulte ist ein Fehlschlag - als Mensch … als Vater sowieso. Ein Jämmerling, dem sie sich vertrauensvoll offenbart hatte? Aber wenn er tatsächlich handlungsunfähig geworden war … sich nicht erklären konnte … Hilfe benötigte? Sollte sie sich auf der Stelle ins Auto setzen und ungefähr fünf Stunden später und fünfhundert Kilometer weiter an seiner Haustür klingeln? Machbar wäre das, denn Zeit und Kräfte waren bei Friederike für den Rest des Jahres eigentlich noch nicht anderweitig gebunden und Thierry konnte erst Silvester bei ihr in Frankfurt sein. Aber würde ihr Sturmklingeln irgendeine Reaktion auslösen? Wüssten vielleicht Nachbarn etwas über seinen Verbleib? Könnte die Polizei ihr weiterhelfen? Sollte sie vielleicht von Frankfurt aus beim zuständigen Kommissariat in Hamburg um Rat fragen? Reichten die Gründe überhaupt aus, damit Ordnungskräfte einschritten? Nach einigem Hin und Her im Kopf befand Friederike, nichts zu tun. Weitere Initiativen sollten nun schon von Schulte ausgehen, um die losen Enden der bisher entfernt voneinander verlaufenen, sich nun aber hoffnungsvoll annähernden Lebenslinien zusammenzuführen. Sie würde ihm nicht hinterherlaufen.
Das neue Jahr ist ein paar Tage alt. Friederike, immer noch ohne Benachrichtigung von Schulte, ist zutiefst enttäuscht. Schon heftig, so zurückgewiesen zu werden, hatte auch Thierry gemeint. Es hält sie nicht länger. Versuche auf Schultes Festnetz und Handy - vergebens. Ihr fällt sonst nur die Uni ein. Der Lehrbetrieb ist bestimmt wieder angelaufen, in der Institutsgeschäftsstelle würde man ihr sagen können, wann, wo und wie ein Mitglied des Lehrkörpers erreichbar ist. Eine forsche, freundliche Telefonstimme - Institut für Politik, Felicitas Krusenbusch … guten Tag … was kann ich für Sie tun? - nimmt ihren Anruf entgegen: Auch guten Tag … Friederike Freytag hier … müsste dringend Herrn Schulte sprechen … können Sie mir vielleicht weiterhelfen? Stille auf Seiten der Mitarbeiterin. Hallo … hallo? Sie vernimmt ein Räuspern, dann zögerliche Worte: In welcher Angelegenheit, bitte, sie Professor Schulte zu sprechen wünsche? Ihre ohnehin schon gereizte Stimmung steigt angesichts der Zumutung, sich vor dieser fremden Frau auch noch erklären zu müssen, schlagartig an. Nun ja, stößt sie unwirsch hervor, in einer Familienangelegenheit. Ich bin seine Tochter. Die Frau saugt hörbar Luft an, schweigt sekundenlang, setzt zum Sprechen an: Oh … nein … ach … äh … so? Dann hat sie sich offenbar gefasst: Verzeihung … die Tochter? Ich wusste gar nicht, dass Herr Schulte Familie hat … entschuldigen Sie … aber wissen Sie denn nicht … wissen Sie denn nicht … ich meine, was passiert ist … passiert ist … ja, nein? Wann hatten Sie denn zuletzt Kontakt mit Herrn Schulte? Nun ja, Heiligabend halt, am Telefon. Oh nein … oh nein … Sie wissen es nicht … es tut mir so Leid … es tut mir so Leid … Professor Schulte … entschuldigen Sie … Ihr Herr Vater ist … Herr Schulte ist … t. … äh … lebt nicht mehr … ist plötzlich verstorben … oh, es ist so schrecklich … wir sind alle ganz fertig … ein Schock … wir haben ihn ja so sehr geschätzt … oh, nein … äh … verzeihen Sie … mein herzliches Beileid … ich war dabei … war dabei … wissen Sie … ja … wir haben Herrn Schulte gefunden.
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