„Fräuleinchen, das ist mir egal. Ich will alle Schlüssel haben und wenn ich alle sage, dann meine ich auch alle.“
Jetzt rief ein Nachbar, den Reiner nicht sehen konnte, weil er wahrscheinlich aus einem Fenster schaute: „Anna, brauchst du Hilfe?“
„Nein, nein, Jupp, ich komme klar.“
Günther hob den Arm gegen den Nachbarn und rief: „Nimm deinen Kopf rein, Jupp, sonst komme ich hoch. Und du, meine Liebe, geh heim und suche den Kellerschlüssel. Sonst verklage ich dich und deinen tollen Frank.“
„Wissen Sie was, Herr Betzberger?“, sagte die junge Frau ruhig, „dann zeigen Sie uns eben an. Viel Spaß. Vielleicht schnitzen Sie sich auch einen Schlüssel, denn es gibt keinen. Auf Wiedersehen!“
Sie drehte sich um und stieg in ihr Auto. Den Kommissar an der Hausecke würdigte sie keines Blickes. Reiner trat näher.
„Gude, sind Sie Günther Betzberger?“
„Wer will das wissen?“
Reiner hielt seinen Dienstausweis direkt vor Günthers Nase. Günther schob die Hand weg und sah mit vor Wut blitzenden Augen in die Richtung, in der das Auto der Frau verschwunden war.
„Ich hasse dieses Weib. Ich hasse ganz allgemein solche vorlauten Weiber. Die denkt, sie ist sonst wer. Lehrerin! Dass ich nicht lache.“
Reiner nickte, denn er verstand sofort, was der Mann meinte. Er musste an Undine denken, die ähnliche Gefühle in ihm ausgelöst hatte.
„Ich stimme Ihnen zu, aber eigentlich muss ich mit Ihnen über den Mord in Nastätten reden.“
„Na, dann kommen Sie mal rein in mein heiliges Reich.“
Der Innenhof war betoniert, vor kurzem hatte es noch einen hohen Holzzaun gegeben, aber den hatte Günther abgerissen, um das Material für seine Kunstwerke in die Scheune zu transportieren. Er musste mit dem Traktor rückwärts hineinfahren können, also hatte er sich Platz verschafft. Die abgebauten Zaunfelder lehnten an der Mauer des Schuppens, achtlos waren die Blumen und Kräuter heruntergetreten worden. Hinter dem Holz kämpfte eine Clematis uns nackte Überleben. Einige Stauden, die wahrscheinlich am Zaun gestanden hatten, waren mit den Wurzeln ausgerissen und ebenfalls am Schuppen aufgeschichtet worden. Alles war vertrocknet und sah traurig aus.
Mitten im Hof stand ein etwa zwei Meter hoher Baumstamm, den Günther von der Rinde befreit hatte. Das glatte Fichtenholz duftete. Reiner schloss die Augen, fühlte sich wie im Wald und atmete tief ein und aus.
„Das fährt einen runter, oder?“, fragte er und ließ seine Hand über das Holz gleiten.
„Da können Sie einen drauf lassen. Wenn ich hier arbeite, dann ist mein Kopf frei. Die Säge findet ihren Weg durch das Holz.“
„Was wird aus dem hier?“
„Ein Grizzly, der kommt in einen Vorgarten in Oelsberg. Wollen Sie auch einen?“
„Nein. Ich wohne zur Miete und habe keinen Vorgarten. Jetzt mal zu dem Toten. Wie war das an dem Abend? Erzählen Sie!“
Günther sagte nichts anderes als Undine und Silke, also stieg die Enttäuschung schon wieder in Reiner hoch wie die Magensäure, wenn man Sodbrennen hatte. Er fragte sich: Was habe ich denn erwartet? Jonas Beilank war in den frühen Morgenstunden getötet worden, da lagen die Künstler in ihren Betten und träumten vom nächsten Kunstwerk.
„Kommen Sie, ich zeige Ihnen mein Holz.“
Reiner folgte Günther zur Scheune, deren großes Tor er weit aufzog. Davor lag ein weiterer Stamm, der die Form eines liegenden Hasen hatte. Nur die Ohren und das Gesicht mussten noch aus der unförmigen Kugel an der Vorderseite herausgeschnitten werden. Links daneben in einer Nische gab es einen Schreibtisch und auf dem türmten sich Skizzen, ein alter Ledersessel war unter die Tischplatte geschoben. Günther schaltete in der Scheune das Licht an und jetzt konnte Reiner überall dicke, lange Fichtenstämme erkennen. Einige lagen links an der Seite, andere trockneten unter der hohen Decke. Ihr Duft erfüllte den ganzen Raum. Rechts stand eine lange Werkbank. Dort reihten sich Kettensägen mit unterschiedlich großen Schwertern nebeneinander. An einem Brett an der Wand befand sich weiteres Werkzeug, alles akribisch geordnet und sauber.
„Was kostet so ein Kunstwerk?“
Günther lachte und winkte ab.
„Es gibt Teile, die ich verschenke, aber der Bär da draußen kostet sechshundert.“
„Ah ja. Und das macht auch sicher Krach, oder?“
Nun grinsten beide Männer.
„Mir egal“, erklärte Günther trocken, „wenn ich eine Idee habe, dann muss ich arbeiten. Basta. Die Kunst kennt keine Nachtruhe. Sie werden sicher mal recherchieren, darum sage ich es Ihnen gleich: Ich habe schon einige Anzeigen bekommen. Dieses Volk hier ist spießig von Kopf bis Fuß. Wenn du nicht um eins die Schnauze hältst und dein Werkzeug fallenlässt, rufen die die Bullen. Aber ich habe das immer bezahlt und fertig. Schließlich habe ich genug Kohle. Und der tote Kerl interessiert mich auch nicht die Bohne.“
In diesem Moment schien es, als würde ein Ruck durch Günther gehen und er spuckte auf den Boden. Ohne Reiner eines weiteren Blickes zu würdigen, lief er hinaus und warf die Kettensäge an. Reiner hielt sich die Ohren zu und verließ grußlos den Hof. Unter der Linde kam ihm Jennifer mit zwei Pizza-Kartons entgegen.
„Das ist nicht dein Ernst?“, fragte sie, als sie sah, wie Reiner geparkt hatte.
„Was denn? Willst du die Polizei rufen?“
Reiner lachte, griff nach der Pizza und setzte sich gemütlich unter die Linde. Jennifer nahm neben ihm Platz und sie aßen schweigend.
„Komm“, sagte er später kauend und stand auf. „Wir fahren nochmal nach Nastätten und sehen nach, was diese Weiber machen.“
„Darf ich nicht mal aufessen?“
„Das kannst du im Auto machen. Ich fahre.“
„Möchtest du noch ein Stück Schmandtorte, Herbert?“
Undine hatte ihr charmantestes Lächeln aufgesetzt. Als sie Herbert Nusel zum Kaffee eingeladen hatte, verschwieg sie ihm den eigentlichen Grund. Die Lüge mit dem Kontrollblick auf das Holzdach über dem neuen Brennofen hatte den gewissenhaften Feuerwehrmann hergelockt. Außerdem war er neugierig und hoffte, aus erster Hand etwas über die Leiche zu erfahren.
„Gerne, die Torte ist ein Gedicht, Undine. Kann ich auch noch eine Tasse Kaffee bekommen?“
Lene, die sich wie immer dezent im Hintergrund gehalten hatte, griff nach der Kanne und schenkte nach. Sie schob die Milch über den Tisch und verzauberte Herbert mit einem Augenaufschlag.
„Es ist wirklich nett von dir, an einem Samstagnachmittag herzukommen. Denkst du, ich muss über dem Ofen das Dach noch weiter öffnen?“
Undine hatte auch nicht gesagt, dass der Ofenbauer schon alles genau geprüft und der Schornsteinfeger den Bau abgenommen hatte. Und Herbert hatte verschwiegen, dass er das wusste. Geschickt lenkte er jetzt das Gespräch auf die Leiche.
„Mit dem Ofen ist alles in Ordnung. Meine Liebe, wie geht es dir denn eigentlich? Man hat ja nicht jeden Tag eine Leiche am Gartenzaun liegen. Hatte er wahrhaftig ein Messer in der Brust?“
„Oh ja, das hatte er. Und er war mausetot, als ich vom Lärm, der draußen von der Polizei veranstaltet wurde, aufgewacht bin.“
„Man sagt, ein Mädchen hat den Toten gefunden. Hast du sie gesehen?“
„Ja, du kennst die Kleine auch: die Tochter von der Heidi Hönn. Corinna.“
„Ach Gott, das muss furchtbar sein. So ein junges Ding, sie hat sicher einen Schock gehabt.“
„Nun, ich fand, sie war sehr gefasst für die Umstände. Sie hatte ihn ja nur mit Abstand gesehen.“
Lene grinste in sich hinein, denn die beiden Gesprächspartner an diesem Tisch schlichen um den heißen Brei herum wie der Fuchs um den Hühnerstall. Sie beschloss, die Sache zu beschleunigen.
„Also Herbert, du willst Einzelheiten wissen und wir wollen, dass du uns hilfst. Wir haben den Mann am Abend vorher hier auf dem Hof gesprochen. Er hatte ein Bild von einem Baby in der Tasche, die seine Tochter sein und hier leben sollte. Darum ist er aus Berlin hierhergekommen.“
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