Als die junge Frau im Bademantel in die Küche trat, sah ihre Mutter, dass sie geweint hatte.
„Kind, was ist denn nur passiert? Ich mache mir Sorgen!“
„Nichts, ich bin nur so schnell …“
„Mach mir doch nichts vor!“
Das Mädchen schwieg und sah auf ihren Teller. Ein winziger Krümel lag daneben und nun drückte sie ihn mit dem Zeigefinger platt.
„Rede! Hat dir jemand etwas angetan? Ich habe nie Ruhe, wenn du in der Dämmerung so allein draußen rumrennst.“
Corinna sah ihre Mutter entsetzt an.
„Nein, mir hat keiner etwas getan. Ich … ich habe einen Toten gefunden.“
In der Stille, die nun entstand, hörte man nur das Röcheln der Kaffeemaschine. Heidi Hönn hatte aufgehört zu atmen.
„Wie bitte?“, fragte sie nach einer stillen Minute.
„Ich habe eine Leiche gefunden und die Polizei gerufen. Sie lag am Bucher Pfädchen mit den Füßen in der Lohbach.“
Die Mutter kam um den Tisch herum und nahm Corinna in den Arm, die nun wieder weinte, denn der Anblick des Toten hatte sich in ihre Seele gebrannt.
„Meine arme Kleine. Am besten bleibst du heute zuhause, in diesem Zustand kannst du doch nicht in die Schule gehen.“
„Auf gar keinen Fall!“, wehrte sich Corinna, die doch an einem Tag, an dem sie so etwas Krasses zu berichten hatte, nicht zuhause bleiben konnte. „Nein, ich habe heute die letzte Stunde Mathe vor der Klausur. Das ist wichtig.“
Sie dachte: Und ich muss meinen Freundinnen davon erzählen. Nach der Mathestunde konnte sie immer noch vor Kummer zusammenbrechen und sich heimschicken lassen. Außerdem hatte sie keine Lust auf die Fragen und das mitleidige Gehabe ihrer Mutter.
„Kind, das ehrt dich sehr, aber du siehst vollkommen fertig aus. Überlege es dir.“
„Nein, Mama, ich schaffe das schon.“
Sie biss herzhaft in die Toastscheibe, wie um zu beweisen, dass es ihr gut ging. Dann stand sie auf, eilte in ihr Zimmer, zog sich an und schulterte den Rucksack. Auf dem steilen Weg hinauf zur Schule übte sie ihr leidendes Gesicht und hoffte, die anderen würden schon da sein. Heute würde sie im Mittelpunkt stehen.
Auf den Stufen vor dem Haupteingang saßen Lina Liekos und ihr jüngerer Bruder Julius. Der schlanke Junge, dessen große blaue Augen einem direkt auffielen, ging in die achte Klasse. Lina, Corinnas beste Freundin, war ebenfalls achtzehn und machte auch bald ihr Abitur. Sie kannten sich seit dem Kindergarten und waren unzertrennlich. Lina sah ganz anders aus als ihr Bruder. Sie hatte zwar ebenso dunkle Haare, die ihr heute offen über die Schultern fielen, aber ihre Augen waren dunkelbraun und um ihre dichten Wimpern beneidete sie jedes Mädchen in der Schule.
Corinna sah ihre Freundin ernst an. Wortlos ließ sie sich neben Lina auf der Treppe nieder und das geschah eigentlich nie. Julius sah sie von der Seite an und grinste.
„Was ist los? Hat dein Schatzi Schluss gemacht?“
„Halt die Klappe!“, fuhr Corinna ihn an und dann traten Tränen in ihre Augen.
Lina legte einen Arm um ihre Freundin und fauchte ihren Bruder an: „Hau ab, du Missgeburt! Du siehst doch, dass es Corinna schlecht geht. Süße, was ist denn passiert?“
Julius zeigte seiner Schwester den Mittelfinger und lief hinüber zu seinen Freunden, die soeben von der Bushaltestelle über den Hof kamen. Corinna schluchzte.
„Ich … ich war heute früh joggen und habe eine Leiche gefunden.“
Dieser Satz brachte genau die Wirkung, die sie sich ausgerechnet hatte. Lina schnappte nach Luft und feuerte eine Salve von Fragen auf Corinna ab.
„Wo denn? Wer war das? Ein Mann oder eine Frau? Wie sah die aus? War es ein Unfall? Hast du die Leiche angefasst? Hast du die Bullen gerufen? Jetzt erzähl doch mal!“
„Wenn du mich zu Wort kommen lässt, dann kann ich dir das alles genau erzählen. Aber du darfst das auf keinen Fall irgendjemandem weitersagen.“
Mit dieser Aufforderung hatte Corinna die Gewissheit, dass es jeder in der Schule erfuhr. Endlich war sie mal so richtig wichtig. Natürlich sah sie gut aus und hatte viele Freunde, aber in der Hierarchie der Mädchen aus der Oberstufe stand doch eher Lina auf dem ersten Platz der Aufmerksamkeit.
„Ich schwöre, ich schweige wie ein Grab“, versprach Lina und dann berichtete Corinna über ihren aufregenden Morgen.
Als sie geendet hatte, quetschte sie noch ein paar Tränen hervor und ließ sich bewundern.
„Mann“, erklärte Lina, „dass du da so cool bleiben und die Polizei rufen konntest. Das hätte ich nie geschafft. Und der wurde echt ermordet?“
„Ja, das Messer steckte in seiner Brust und die ganze Klinge war in ihm drin.“
„Oh mein Gott, wie krass. Musst du jetzt nochmal zur Polizei? Wenn der Mörder gefasst ist, musst du sicher vor Gericht aussagen.“
Corinna hatte ihre Beteiligung ein wenig ausgeschmückt und nickte jetzt ernst.
„Ja, ich bin eine wichtige Zeugin.“
Schweigen breitete sich aus, bis Lina plötzlich aufsprang.
„Ach du Scheiße, wenn du eine wichtige Zeugin bist, dann ist der Mörder jetzt bestimmt hinter dir her! Du bist in Gefahr. Bekommst du Polizeischutz?“
Corinna warf sich in die Brust und strich ihre Haare zurück.
„Sie suchen jetzt den Mörder. In der Schule bin ich sicher, hat der Kommissar gesagt. Ich darf jetzt nur nicht mehr morgens allein joggen.“
Davon war zwar nicht die Rede gewesen, aber nun war es Corinna ganz anders geworden: Da draußen im friedlichen Nastätten lief ein Mörder frei herum.
„Dass du so ruhig bleiben kannst!“, empörte sich Jasmin, als sie mit Undine am nächsten Tag bei einem späten Frühstück saß. „Hier läuft einer durch die Gegend und bringt Menschen um. Ich bekomme kein Auge zu.“
„Ach was, das war doch kein spontaner Mord. Der Mörder hat sich den Mann aus Berlin gezielt ausgesucht.“
Sie schauten zum großen Hoftor, das sich in diesem Moment öffnete. Lene steckte den Kopf hindurch und lächelte, als sie Undine und Jasmin vor der Remise sitzen sah. Der Tisch war reich gedeckt, in einem Brotkorb gab es frische Weck. Ein Holzlöffel steckte in einem großen Glas Honig, das selbst getöpferte Geschirr in grellen Farben war einzigartig, in der Mitte stand eine Platte mit Aufschnitt und Käse.
„Lenchen!“, rief Undine erfreut aus und ließ sich beide Wangen küssen. „Setz dich und frühstücke mit uns. Hier sind ein Teller und eine Tasse. Möchtest du Kaffee oder Cappuccino?“
„Ein Glas Wasser reicht mir, aber ich esse gerne eine Weck mit Honig.“
„Bitte bediene dich. Wie geht es dir?“
Lene sah Undine aufmerksam an.
„Das wollte ich dich gerade fragen. Eine Leiche in der Lohbach?“
„Der späte Besucher, der seine Tochter suchen wollte. Das wird ja nun nichts mehr.“
„Der arme Kerl, er war so voller Hoffnung und ich fand ihn sympathisch.“
„Ich habe eine Idee!“, rief Undine. „Wir suchen das Mädchen selbst. Und vielleicht finden wir auch den Mörder.“
Jasmin war entsetzt und stieß vor Schreck die Kaffeetasse um. Dass Undine so entspannt war, war ihr schon merkwürdig vorgekommen, aber dass sie jetzt auch noch Detektiv spielen wollte, das ging einfach zu weit.
„Das überlass mal lieber der Polizei. Auf keinen Fall will ich darüber irgendetwas wissen.“
Lene beugte sich mit verschwörerischem Blick zu Undine und murmelte: „Ich bin dabei. Das macht sicher Spaß.“
Jetzt sprang Jasmin auf und stellte ihr Gedeck zusammen, um eilig in der Küche zu verschwinden.
An der Tür zu ihrer Wohnung drehte sie sich nochmal um und sagte: „Ihr habt sie doch nicht mehr alle.“
Lene und Undine steckten nun die Köpfe zusammen und tuschelten, als sich das große Hoftor erneut öffnete. Der grobe Kommissar, den Undine scheußlich fand, kam mit schnellem Schritt auf den Tisch zu und setzte sich unaufgefordert. Er atmete schnaufend ein und aus und legte seine Unterarme auf den Tisch.
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