Von ihr stammte auch das besondere Pflaster des Weges und man musste sich von dem faszinierten Blick zu Boden schon mit Macht losreißen, denn Werkzeug, bunte Scherben, besondere Steine und andere kleine Überraschungen waren im Beton eingelassen.
Der Besucher allerdings hatte keinen Blick für die Schönheiten, die um ihn herum zu sehen waren, er schien seltsam in Gedanken versunken zu sein und nippte an seinem Glas Wasser.
Lene Borskievic, eine stille Kinderbuchautorin, setzte sich jetzt gerade hin. Sie räusperte sich und nun sahen die Künstler sie interessiert an, denn eigentlich sprach Lene nie. Sie hörte zu, schaute hin und saugte die Ereignisse um sich herum auf, um sie dann in einem neuen Buch zu verarbeiten.
„Nun sitzen Sie schon mal hier. Also los, erzählen Sie uns, warum Sie am frühen Morgen in Berlin starten, um abends am Ortsschild von Nastätten aus dem Taxi zu steigen und hier herumzulaufen, als seien Sie auf der Suche nach etwas ganz Wichtigem.“
So viel hatte Lene den gesamten Tag über nicht geredet, darum hatte Günther einen bösen Spruch auf den Lippen, der ihm nach einem Blick in Beas Augen aber im Halse steckenblieb. Der fremde Mann begann in der Innentasche seines Mantels nach etwas zu suchen, fand es nicht und kramte im Jackett weiter. Von dort förderte er einen zerknitterten Briefumschlag zutage. Mit zitternden Fingern öffnet er ihn und gab Lene ein Foto.
Lene wendete es in den Händen hin und her. Ein Baby, anscheinend ein Mädchen, war darauf abgebildet. Es schlief in eine weiße Decke gehüllt und neben ihm lag ein kleiner Plüschhase.
Lene drehte das Foto noch einmal um und las laut vor: „Das ist deine Tochter.“
Sie sah den Mann, bei dem jetzt Tränen in den Augenwinkeln glitzerten, mit ihren großen unschuldigen Augen an und gab das Bild in der Runde weiter. Niemand sagte etwas. Bea war als letzte dran und wischte liebevoll mit spitzem Zeigefinger über das kleine Gesicht.
„Sie ist aber wirklich ein hübsches Mädchen“, flüsterte sie.
Dann stand sie auf und lief weinend zum Haus. Silke Rösbert, ihre beste Freundin und selbsternannte Stoffkünstlerin, wollte hinterherlaufen, aber Günther hielt sie fest.
„Wir wissen doch, was passiert ist, lass sie ein bisschen heulen.“
„Du bist ein Ekel, wenn du besoffen bist!“, schrie Silke empört und riss sich los.
Sie folgte Bea und war rasch in der Dunkelheit verschwunden. Günther zuckte mit den Schultern und goss sich ein weiteres Glas Wein ein. Der Fremde schüttelte den Kopf.
„Es tut mir leid, wenn ich Ihnen den Abend verdorben habe.“
„Aber keineswegs!“, sagte die sehr junge Glasbläserin Sheila Neuhausen und warf die blonde Mähne zurück. „Bea hat vor vielen Jahren ihre Tochter bei einem Unfall verloren und ab und an holt die Erinnerung sie ein. Sie haben uns das Foto gezeigt, jetzt müssen Sie uns auch Ihre Geschichte erzählen.“
„Es gibt keine Geschichte. Ich will nur wissen, wo das Mädchen vom Foto ist. Irgendwie hat mir der Gedanke gefallen, dass ich eine Tochter habe. Sie muss schon groß sein, denn das Bild ist alt.“
Lene nahm es ihm erneut aus der Hand, drehte es um und fand in einer Ecke ein Datum. Sie rückte näher ans Feuer, um die verblassten Zahlen lesen zu können.
„Sie ist jetzt mit Sicherheit achtzehn Jahre alt, denn hier steht: 6. Mai 2000. Heute ist der 6. Mai!“
Alle redeten durcheinander, aber Lene brachte sie mit einem Wink zum Schweigen.
„Der Absender muss sich etwas dabei gedacht haben. Vielleicht sollen Sie Ihre jetzt volljährige Tochter endlich kennenlernen.“
„Das ist doch Blödsinn. Da hat sich jemand einen Scherz erlaubt“, sagte Pascal Grubensack aus der Gruppe der diskutierenden Männer und drehte einen kleinen Speckstein zwischen den flinken Fingern.
Er liebte diese weichen, glatten Steine und verarbeitete sie zu Miniaturen, die er heute hier ausgestellt hatte. Auch die anderen Künstler hatten an diesem Tag ihre neuesten Projekte auf der Ausstellung in Undines Künstlerhof präsentiert. Nun wendete Pascal sich wieder seinen beiden Gesprächspartnern zu, mit denen er kurz zuvor im Thema Politik versunken gewesen war, so, als würde die drei der fremde Gast überhaupt nicht interessieren.
Der junge Fotograf Reginald Woeckmann und Gustav Bienenmacker, von Beruf Installationskünstler, mit seinen zweiundsiebzig Jahren der Älteste in der Runde, sahen ihren Gesprächspartner böse an, denn sie verlangten bei so einem wichtigen Thema wie der Brücke über den Rhein die volle Aufmerksamkeit. Unbeirrt redeten sie weiter.
Undine sagte plötzlich: „Es ist spät geworden. Kommen Sie doch morgen zum Frühstück wieder her, dann können wir Ihnen bei der Suche nach Ihrer Tochter helfen.“
„Das würden Sie für mich tun? Danke, dann mache ich mich jetzt auf den Weg in mein Hotel und melde mich morgen früh. Danke, dass Sie mir zugehört haben.“
„Nichts zu danken und jetzt auf, meine Lieben. Ab nach Hause! Gute Nacht.“
Kommissar Reiner Nickich warf seine Zigarettenkippe in den Busch am Wegesrand und kam schnaufend näher. Er schien immer in Eile zu sein, sah man ihn mal irgendwo stillsitzen, war er mit großer Sicherheit krank. Sein Husten durchbrach die morgendliche Stille. Es war noch nicht ganz hell. Ein Streifenwagen und ein Rettungswagen standen vor einem offenen Gartentor und versperrten den Fußweg nach Buch. Eine junge Frau in Sportkleidung saß weinend im Gras.
„Ei, gude!“, rief der Kommissar wie immer lauter als nötig. „Was ist los? Eine Leiche in Nastätten? Wie geht das denn?“
Der Streifenpolizist, der auf Reiner zugekommen war, kannte den Ruf des Kommissars und blieb sachlich. Er wollte sich nicht dem scharfen Spott des Mannes aussetzen, wenn er etwas Falsches sagte.
„Guten Morgen, Kommissar Nickich, die junge Frau dort hat ihn gefunden. Niemand hat ihn angerührt.“
„Wo bleibt denn die Spusi? Wir sind zusammen losgefahren. Na, wahrscheinlich finden die den Weg nicht. Gut, dass ihn niemand angerührt hat, ich hätte euch den Kopf abgerissen. Seid ihr euch denn sicher, dass er tot ist?“
„Ähm, ich … ja, keine Ahnung. Er liegt da und hat ein Messer in der Brust. Und …“
„Ach ja? Und wenn er nun noch gelebt hat? Haben Sie etwa nicht nachgesehen?“
„Ich dachte, ich fasse mal lieber nichts an. Weil er doch wirklich tot aussieht.“
„Na prima“, grollte Reiner und ging in Richtung des Toten.
Dort beugte er sich so weit wie möglich hinüber und tastete den Puls am Hals. Dann richtete er sich auf.
„Er ist tot. Glück gehabt, Herrschaften. Ah, da kommen ja die lieben Kollegen.“
Reiner sah den beiden Männern von der Spurensicherung, die jeder einen Koffer in der Hand trugen, mit in die Taille gepressten Fäusten entgegen.
„Seid ihr noch irgendwo eingekehrt? Wir haben einen Toten.“
Rudolf Gronker, der Reiner seit Jahren kannte, ignorierte dessen rohen Charme im Umgang mit seinesgleichen, denn er wusste, dass dieser Mann das Herz am rechten Fleck hatte und sich immer so verhielt. Er wusste, wie man Reiner sehen sollte: Hunde, die bellen, nimmt man ernst.
„Guten Morgen, Herr Kollege. Wissen wir schon, wer der Mann ist?“
„Nein“, sagte Reiner. „Er ist unbekannt. Wenn du ihn durchsuchst, findest du vielleicht einen Ausweis. Ich geh mal und rede mit dem Mädel, das ihn gefunden hat.“
Er lief zurück zu der offenen Gartentür, aber das Mädchen war nicht mehr da. Wütend betrat er über die kleine Brücke das Grundstück und fand seine Zeugin auf einer Bank an der Remise, wo es soeben von einer bunten Frau in eine Decke gehüllt wurde.
„Sie sind eine wichtige Zeugin! Sie können doch nicht einfach abhauen!“, fauchte er los und sah die Bunte an. „Wer sind Sie denn?“
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