Schmerzen hatte ich eh schon wegen der angestoßenen Hüfte, dazu kamen die feurigen Schläge. Die wenigen Tränen, die mir herunter rannen und für alle sichtbar waren, als er mich losließ und mich aufrecht zur Klasse hin stellte, mit der Hand am Kragen packend: Nein, diese Tränen entsprangen nicht dem Schmerz, sondern der unaussprechlichen Scham dieser Erniedrigung!
"Du glaubst wohl, dass du hier deine Kameraden vermöbeln kannst nach Lust und Laune, nur weil du ein Jahr älter bist, du nichtswürdiger Sitzenbleiber???!!!! Diese Lektion soll dir das Gegenteil beweisen!!! Beim Nachsitzen wirst du einen langen Vokabeltest ablegen, den du natürlich versauen wirst!!! Hinsetzen!!!"
Wenn Texte Töne abgeben könnten, würde Ihre Ausgabe hier einmal mehr schrill kreischen...
Ich muss an dieser Stelle erwähnen, dass ich tatsächlich ein Jahr älter war als die Kameraden, nämlich schon 12.
Warum war ich älter?
In der Erzählung „Eine unglückliche Turnstunde" habe ich beschrieben, warum ich mehrere Wochen ausfiel; dummerweise kam kurz danach auch noch eine Blinddarmentzündung hinzu, die mich auch wieder eine Zeit lang lahm legte; also keine Chance, den Klassenabschluss zu schaffen. Deshalb war ich ein Sitzenbleiber!
In einer anderen Situation fiel ich in Ungnade, weil ich ungehobeltes Kind unseren Lehrer bei einer Frage mit den Worten ansprach: „Herr Schott, können Sie...“
Weiter kam ich nicht!
Sein Gebrüll erschütterte nicht nur mich und die Kameraden; das ganze Schulgebäude schien zu erzittern: „Ein Herr Schott steht auf dem Wochenmarkt und verkauft Wurst!! Ich bin Herr Doktor Schott und lehre Latein! Schreib dir das hinter die Löffel und rede mich künftig korrekt an!!!“
Seltsam einmal wieder, dass sein Gesicht bei diesem Jähzornesausbruch nicht platzte; die Haut schien äußerst widerstandsfähig zu sein.
Seltsam aber auch, dass ich einer Stunde Nachsitzen entging!
Ganz allgemein mochte ich Latein nicht so wirklich; im ganz Besonderen aber, weil es diesen unausstehlichen, egomanischen Teufelslehrer gab!
Mein Notenspiegel mag das sehr deutlich ausdrücken: In den Halbjahreszeugnissen fast regelmäßig eine Sechs, von der ich mich bis zum Versetzungszeugnis auf eine Fünf herunterkämpfen konnte; diese konnte ich locker ausgleichen durch gute Noten in anderen Hauptfächern.
Die absolute Überraschung war, dass ich zum Ende der Mittelstufe eine saubere Vier bekam, was das Kleine Latinum bedeutete nach sechs Jahren lateinischer Quälerei!
Herr Schott: Ich sehe Sie heute noch fassungslos, dass Ihre sadistischen Bemühungen, mich ins Abseits zu stoßen, fehlgeschlagen waren!
Wenig verehrter Herr Dr. Schott, ich gebe dabei aber auch zu, dass hier getrickst wurde: Mein Klassenkamerad 'Striebsi' hatte mir einen Teil der letzten Klassenarbeit neben der Bank zu mir nach hinten geschoben; Sie dämonisches Argusauge, in diesem Moment abgelenkt durch ein verdächtiges Räuspern eines Kameraden in der hinteren Reihe, hatten das nicht gemerkt!
Erkennen Sie das jetzt, von irgendwo da unten? Ich freue mich diebisch, ja, sardonisch!
Nachsatz:
Erst zum Ende der Mittelstufe kam ans Licht, dass Herr Dr. Schott hab-ihn-nicht-selig im vierten Stockwerk eines Hauses auf dem Mannheimer Lindenhof wohnte, was an sich ja nicht besonders reizvoll ist für diese Geschichte und auch sonst nicht.
Besonders delikat ist aber, dass meine Eltern über ihm wohnten und deren kleiner Sohn von der Geburt an bis zum Ende des zweiten Lebensjahres die Nachbarschaft malträtierte mit seinem ständigen Geschrei! (Danach sind meine Eltern, samt dem Söhnchen, umgezogen, aber nicht den Nachbarn zuliebe.)
Fazit:
Lieber ehemaliger Nachbar: Sie wurden in Ihrer Studien- oder Refendarzeit durch mich Knirps immens gestört und ließen das später an mir aus, da ich glücklicherweise (von Ihnen aus gesehen) ein Schüler von Ihnen wurde.
Vielleicht ist das sogar verständlich; aber warum sind Sie dermaßen mutiert und mussten alle Schüler quälen? Oder war das schon immer Ihre teuflische Wesensart, entstanden und geprägt durch was auch immer?
NACHSATZ 2 , verfasst von einem Klassenkameraden
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Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl …
Herr Dr. Schott – wenn es ihn denn in der Lateinlehrer-Hölle selig macht, dann nenne ich ihn in drei Teufels Namen so – war ein Scheusal, aber kein Einzelfall.
Er konnte Schüler an guten Tagen tatsächlich für seinen Stoff interessieren, konnte durchaus spannend und anschaulich erzählen, aber das ist hier für meine Einschätzung dieses Herrn ungefähr so von Belang wie Hitlers Liebe zu Deutschen Schäferhunden für dessen Beurteilung.
Schott und viele andere Lehrer seiner Generation waren natürlich geprägt durch die damals gerade eine Generation zurückliegende, angestrengt totgeschwiegene braune Herrlichkeit und sicher auch durch den Zweiten Weltkrieg, in dem er für Führer, Volk und Vaterland seinen rechten Arm gelassen hatte.
Ja – geprägt durch die Nazizeit waren sie alle, die Fedl, Kölmel (der mich im Nachhinein immer an Roland Freisler erinnert, vielleicht, weil er ähnliche Manieren an den Tag legte), eben Schott und wie sie sonst hießen. Das waren keine guten Pädagogen, wie viele unserer Eltern damals glaubten („streng, aber gerecht“ – nun, von der Gerechtigkeit des Kollegen Schott haben wir hier ja anschauliche Beispiele gelesen), auch keine schlechten Pädagogen, das waren überhaupt keine Pädagogen. Sondern eben mehr oder weniger Scheusale.
Ich sehe es ähnlich wie der von mir hochgeschätzte Schriftsteller und Journalist Ralph Giordano („Die Bertinis“, „Die zweite Schuld oder Von der Last, Deutscher zu sein“): Die Nazizeit wurde auch möglich durch einen lang andauernden Verlust der humanen Orientierung in großen Teilen der Bevölkerung. Eben für diesen Verlust der humanen Orientierung, dieses Fehlen fast jeglichen menschlichen Mitgefühls, der Unfähigkeit, Jugendliche zu fördern, damit die eines Tages lebensfähige Persönlichkeiten sind, ist Schott ein zwar etwas extremes Beispiel, aber kein außergewöhnliches. Sein Ziel war, uns zu funktionierenden Untertanen zu formen. Flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl.
Vermutlich (gesagt hat er das so meines Wissens nie, es stand auch nicht zur Debatte, denn debattiert wurde bei dieser akademischen Variante eines Unteroffiziers grundsätzlich nicht) waren eben das auch seine „pädagogischen“ Ziele, getreu übernommen vom selbsternannten größten Feldherrn aller Zeiten. Jedenfalls arbeitete er konsequent in diese Richtung. Für Gespräche mit Schülern, für Zuhören, gar für ein Abwägen, was in einem konkreten Fall gerecht oder ungerecht, richtig oder falsch sei, war in einer solchen scheißbraunen Weltanschauung kein Platz. Ein Junge weint nicht, ein deutscher Junge muss Schläge einstecken können, ein deutscher Junge muss …
In einer bekannten Rede zog Schotts mutmaßliches Vorbild, jedenfalls das seiner Jugend, um die ihn das braune Pack betrogen hatte, das Fazit, die Jugendlichen würden „nicht mehr frei ihr ganzes Leben“.
Ja, Kollege Schott, du in deiner Lateinlehrer-Hölle, wo du vermutlich nicht auf dem Holzkohlengrill schmorst, auf den du eigentlich gehörst, sondern die Engel schleifst und drillst, sie mit deiner Trillerpfeife weckst wie uns im Schullandheim und „Aufstehen, fertigmachen zum Frühsport!!!“ krakeelst, ihnen Lateinvokabeln einpaukst und sie zusammenbrüllst, dass man dein dumpfes Gebrülle und das Klirren deiner durch die Landschaft geworfenen Schlüsselbunde bis zum Himmel hört – das könnte dir jetzt gerade so passen!
Thomas Striebig alias „Striebsi“, der natürlich keineswegs altersweise zu werden gedenkt – weder alt noch weise!
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