„Manchen ist wirklich nichts zu blöd, um eine weiße Weste vorzutäuschen, in der Tat.“ „Warte, das Beste kommt noch, weil ihm der Untersuchungsausschuss nämlich diese Argumente abgenommen hat und – du wirst es nicht glauben, sie haben seinem Antrag um Aufnahme in die Gewerkschaft zugestimmt. Bummsti!“ Carl hatte mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Erbost drehte sich ein älterer Herr mit Nickelbrille an dem kleinen runden Tisch hinter ihnen um und warf Carl strafende Blicke zu. „Ja, wenn das so auch geht?“ staunte Erich. „Natürlich, alles geht, wenn du einen guten Schmäh hast bei uns in Österreich, alles, Erich, alles!“ Carl zündete die erloschene Virginier abermals an. „Was die alles im Ausschuss zu hören kriegen, da stellt´s dir die Haare zu Berge, das kannst´ mir glauben. Ein Regimekonformer, im Reichsverbandsakt eindeutig registriert, mit Punkt und Komma, bestreitet seine NSDAP-Mitgliedschaft und hat echte Dokumente vorgelegt, die ihn als Widerstandskämpfer ausweisen. Den haben sie auch aufgenommen. Na, da sagst nix mehr, was?“
Erich schüttelte nur ungläubig den Kopf und schaute zum wiederholten Male auf seine Uhr. „Oder, der, der – dieser Wilfinger, genau“, fügte Carl hinzu, „ hat nach dem 11. März 38 nur mehr im braunen Hemd geschrieben. Der war weder Chef-redakteur noch sonst irgendwas Bedeutendes, das Würschtl, und trotzdem waren alle von seiner Gunst abhängig. Jud´ möcht´ ich bei dem nicht gewesen sein, ehrlich, auf die war er ganz besonders scharf, weil von denen alle was können haben und er keinem von ihnen das Wasser reichen konnte. So war das, hmm!“ „Ja, den kenn´ ich auch“, erwiderte Erich, „ der hat doch in dem Rekursverfahren damals den journalistischen ‚Goldfasan’ herauskehren wollen, dass er 1938 ‚getarnt’ agiert hätte. Nur hat er leider vergessen, wovor er sich mit seiner Tarnung hatte schützen wollen, und dann haben sie ihn abgelehnt.“ Die beiden brachen in schallendes Gelächter aus.
Im gleichen Augenblick vernahm man das Klirren zerschlagenen Porzellans aus der Küche. „Na alsdann, jetzt hamma´s!“ schimpfte Herr Franz und stürmte durch die Schwingtür in die Küche, um nach dem Rechten zu sehen. „Was ist denn das für eine Aufregung?“, empörte sich der ältere Herr am runden Tischchen, „hier kann man nicht einmal mehr in Ruhe seine Zeitung lesen!“ Indessen war die Unbekannte am Fenster aufgestanden. Sie schien wirklich hoch gewachsen, nicht nur wegen der Stöckelschuhe die sie trug, und sie war gertenschlank. Carl und Erich verrenkten sich beinahe die Hälse nach ihr. Sie schlüpfte in einen dunklen Pelz, in den ihr Herr Franz aufmerksam geholfen hatte, und trat grußlos aus dem Café auf die Straße. „Nicht schlecht, würd´ ich sagen, was, mein Lieber?“ Carl paffte an seiner Virginier. Erich dämpfte die seine im Aschenbecher aus. „Ich bin schon neugierig, was die in Moskau wieder ausverhandelt haben“, fuhr er fort, „der Marshall hat gesagt, dass die Verhandlungen über den Staatsvertrag restlos gescheitert sind.“
„Ich hab´ gehört, dass die UNO im September die Verhandlungen fortführen soll.“ „Bitte, jetzt haben wir April. Glaubst du, die bringen bis dahin mehr zusammen? Wenn du mich fragst, ich nicht. Der Karren ist doch total verfahren.“ „Außerdem wollen sich die alle in Genf treffen.“ „Als ob´s dort was anderes wär´, lächerlich!“, ärgerte sich Carl. „Der Molotow wird eine Kommission einsetzen, hört man.“ „Was für eine Kommission?“ fragte Carl. „Na, zur Beratung vom Vertrag eben“, antwortete Erich. „Ah ja. Is´ mir langsam auch Wurscht. Ich mein´, wir können ja eh nix ändern, oder?“ In der Zwischenzeit hatten die Amerikaner die x-te Runde Bier bestellt. „Ich glaub´, ich bin im falschen Land geboren worden, Erich“ seufzte Carl, und blickte traurig in sein leeres Glas, hob es hoch, drehte es um und ließ die letzten Tropfen auf den am Tisch liegenden Bierdeckel fallen. „Ich komm´ zu spät, Carl, wenn ich jetzt nicht geh´. Ich danke dir schön für die Einladung. Ruf mich am Abend in der Redaktion an, dann sag´ ich dir Bescheid wegen der Sitzung.“ „Nix zu danken, und – bleib sauber!“ rief dieser Erich nach.
Stephansplatz, 17 Uhr 10Erich völlig außer Atem: „Maria, es tut mir Leid, ehrlich. Carl hat mich so lange aufgehalten.“ Sie umarmten sich innig und küssten sich leidenschaftlich. „Mach dir keine Gedanken, ich bin selber erst seit zwei Minuten hier. Die Franzi hat mir gesagt, wir könnten übers Wochenende ins Strandhotel am Wallersee fahren. Sie möchte´ uns gerne einladen, du .... mein Gott, hast du dich heute schon in den Spiegel gesehen, also ... wie du ausschaust – blass, Ringe unter den Augen! Heute wird aber geschlafen, hörst du? Du rührst mir die Schreibmaschine nicht mehr an vor morgen früh, verstan-den?“ „Ja, mein Schatz, alles mein Schatz. Nur, weiß deine Franzi überhaupt, ob es noch freie Zimmer gibt am Wallersee? Hast du eine Ahnung, was dort los ist in letzter Zeit! Lauter erholungsbedürftige Journalisten! Und denkst du an die verlausten Decken voriges Jahr?“ „Geh, sei nicht so zimperlich, Erich. So schlimm waren die auch nicht. Ein bisserl gekratzt haben sie halt. Das was alles. Aber vielleicht ist heuer schon wieder alles anders, besser.
Lassen wir uns einfach überraschen, und die Franzi ruft ohnehin vorher an, hat sie gesagt.“ „Vielleicht hast du Recht. Weißt du noch wie Carl damals in letzter Minute ein Lastauto organisiert hat, damit die Eröffnung des Hotels überhaupt stattfinden konnte.“ Ja, natürlich, das werd´ ich nie vergessen, und sie haben hervorragend gekocht. Ach, dieses himmlische Beuscherl mit Nockerl! Ein Gedicht! Meine Mutter hat immer gesagt, der Hunger ist ein guter Lehrmeister. Jetzt erst weiß ich wieder, was es heißt, sich satt essen zu können!“ „Satt essen, gute Idee. Was haben wir denn noch in unseren Kammern, mein Schatz?“ Maria wurde ernst und sagte: “Erich, ich kann nirgends Fleisch auftreiben! Heute früh war ich am Naschmarkt. Es gibt nur Kartoffeln und Bohnen. Ein paar Rüben vielleicht. Du, wenn du willst, ich mach dir eine Eierspeis´. Eier gibt´s genug, Gott sei Dank, bist du einverstanden damit?“ Etwas brummig stimmte er zu. „Na, vielleicht krieg´ ich im Mai was Anständiges zu essen.
Der Minister Sagmeister hat uns versprochen, dass nach der letzten missglückten Lieferung eine Besprechung der Ernährungsreferenten die schmale Fleischration zumindest für den Mai sichern soll. Das ist wirklich sehr edel von ihm, findest nicht auch?", spottete Erich. „Warum ziehen wir nicht auf´s Land? Draußen ist alles viel leichter. Mich friert, bitte lass uns gehen, ja?“, drängte seine Frau. „ Komm!“ sagte Erich, „so gut wie im letzten Jahr geht´s uns heuer nicht. Erinnerst du dich, Weihnachten im J u n i 1946?“ „Ja, die amtliche Lebensmittelzuteilung der Kollegen aus den Bundesländern für die unterernährten Wiener Journalisten“, lachte Maria. „Dieses Jahr gibt´s wahrscheinlich Steak“, sagte Erich. „Warum?“ fragte sie ungläubig, als sie in vom Graben in den Kohlmarkt einbogen. „Weil uns die Amis gesehen haben. Daraufhin haben sie gemeint, wer so unterernährt ist wie wir, kann sicher nur dummes Zeug zusammen schreiben. Also wäre es besser, wir schicken ihnen lieber was Ordentliches zu essen.“ Beide kicherten.
„Hast du unsere Kalorienkarte mit, oder ist die noch in der Einkaufstasche im Seitenfach?“ fragte Erich. „Wozu brauchst du die jetzt? Es hat doch bald alles zu.“ „Ach, ich dachte, ich krieg´ irgendwo noch einen Krautkopf her.“ „Aber das verträgst du ja gar nicht mit deinem empfindlichen Magen“, antwortete Maria. „Weiß ich selber. Ich kenne einen Portier bei uns, bei dem kann ich ihn gegen Zigaretten eintauschen. Wenn ich nichts zu Rauchen habe, fällt mir auch nichts zu Schreiben ein, verstehst du?“ Maria schüttelte verwundert den Kopf. „Fühl´ mal“, bat sie Erich, der seine Hand unter ihren Mantel auf ihren Bauch schob. „Spürst du was?“ „Ja, Hunger“, lachte er, während sie eng umschlungen über den Heldenplatz gingen. „Ich habe Angst, Erich. Ich weiß nicht, das ist keine Zeit ein Kind zu bekommen.“ „Ach, Liebling, es ist in Ordnung. Der Krieg ist vorbei, ich habe wieder Arbeit. Was soll passieren? Zu allen Zeiten haben die Menschen Kinder bekommen. Wir haben weiß Gott schlimmere Zeiten erlebt, etwa nicht?“ „Vielleicht hast du Recht“, flüsterte Maria.
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