Links die Größte, Viktoria, in der Mitte Friederike und schließlich rechts Georg.
Die Kinder waren herausgeputzt, von der Haarschleife bis zu den weißen Schuhchen bei den Mädchen und dem Matrosenanzug bei Georg stimmte alles. Sicher steckten sie noch keine zehn Minuten in ihren Kleidern, alles wirkte, als hätte man Schaufensterpuppen gerade ausstaffiert.
„Georgs fünfter Geburtstag“, erklärte Frau von Riefenstein und legte die Aufnahme zu den anderen vor mir.
„Sind das Ihre Eltern?“ fragte ich, als Frau von Riefenstein das nächste Bild aufnahm. Es zeigte ein Ehepaar, beide ernst aussehend, beide in kerzengerader Haltung.
Die sehr hübsche Frau war schlank, war bekleidet mit einem dunklen Rock und einer weiße Bluse mit gesticktem Stehbündchen. Die Hände steckten in weißen Handschuhen aus Klöppelspitze. Auf dem Kopf trug sie einen weit ausladenden weißen Sommerhut.
Der Mann war bekleidet mit einem eleganten Anzug, wie man ihn in höheren Kreisen in der Freizeit, etwa zum Flanieren auf einer Promenade, trug. In der linken Hand hielt er einen Spazierstock.
„Mögen Sie noch?“
„Natürlich“, beeilte ich mich zu erwidern, und das nicht nur, um der alten Dame eine Freude zu machen, sondern weil diese Familie mich wirklich zu interessieren begann.
„Haben Sie auch ein Bild von Ihrer Gouvernante?“
Sie kramte in ihrem Bilderkarton und wurde fündig.
„Aber bitte bedienen Sie sich doch noch!“, entsann sich Frau von Riefenstein auf ihre Rolle als Gastgeberin und reichte mir die Keksschale.
„Nehmen Sie doch gleich zwei oder drei. Oder schmecken sie Ihnen nicht?“
Natürlich schmeckten sie mir. Sie waren ausgezeichnet, ich hatte – ohne Übertreibung – noch keine gegessen, die auch nur annähernd so delikat waren wie diese.
Ich glaubte nicht, dass es diesem Kompliment zu verdanken war, aber ohne jeden Übergang eröffnete sie mir, ich könnte, natürlich nur wenn ich wollte, ihren alten VW Käfer benutzen.
„Ich fahre schon lange nicht mehr, und der Wagen verstaubt in der Garage. Warum wollen Sie ihn nicht nehmen. Sie würden viel Zeit sparen, wenn Sie mich besuchen.“
Erwartungsvoll sah sie mich an.
Ich muss gestehen, ich war überrascht.
Zwar war ich aus Überzeugung autolos, aber schon gestern war die ins Wanken geraten.
Plötzlich hatte Frau von Riefenstein es sehr eilig. Sie entnahm ihrer Kommode einen dicken Briefumschlag, hielt ihn wie eine Trophäe hoch und forderte mich auf, ihr zu folgen.
Mit dem Aufzug fuhren wir in die Garage im Kellergeschoss.
Sie steuerte einen dunkelblauen Käfer an, der abseits in einer hinteren Ecke abgestellt war, riss den Umschlag auf und entnahm ihm die Fahrzeugpapiere und den Schlüssel. Beides überreichte sie mir fast feierlich.
„Probieren Sie, ob er fährt!“
Der Wagen hatte jahrelang gestanden, und so weigerte sich der Motor beharrlich, anzuspringen. Gerade noch rechtzeitig, bevor die Batterie erschöpft sein würde, erwachte er, stotternd zwar, eine stinkende rußige Wolke ausstoßend, doch es gelang mir, ihn zu zähmen.
Frau von Riefenstein lächelte zufrieden.
„Viki! Viki!“
Annabelle stand auf der obersten Stufe, die hinab zur Terrasse führte und spähte in den Garten. Irgendwo musste Viktoria doch stecken.
Es war noch nicht lange her, da brauchte sie nur einmal zu rufen, und Viktoria tauchte aus irgendeinem Versteck auf, einer kleinen Höhle, die sie und ihre Geschwister sich in den Büschen gebaut hatten, unter einem der vielen Rhododendren oder aus dem benachbarten Kurpark, den man durch eine fast verborgene Pforte erreichen konnte.
Jetzt war ihr liebster Platz unter den tief herabhängenden Ästen und Zweigen der Trauerweide. Hier hatte der Gärtner ihr eine einfache Bank zusammengezimmert, auf der sie ungestört ihren Träumen nachhängen konnte.
Früher hatte sie sich lustig gemacht über die jungen Mädchen oder Fräulein, wie sie plötzlich genannt wurden, die mit blasiertem Gesicht über die Kurpromenade stolzierten, den winzigen Sonnenschirm in der Hand, oder die sich auf eine Parkbank setzten, sehr sittsam schienen und unnahbar und doch nur darauf warteten, dass sie von irgendeinem Kavalier angesprochen wurden, der sie bat, sich auf das andere Ende der Bank setzen zu dürfen.
Noch im vorigen Jahr hatte sie alle drei Bände von „Frieselinchens Lebenslauf“ verschlungen und Annabelle zugehört, wenn sie den jüngeren Geschwistern aus dem „Buch für Mädchen“ oder dem „Neuen deutschen Jugendfreund“ vorlas.
Jetzt bevorzugte sie die „Illustrierte Sonntags-Zeitung für unsere Frauen“, Ratgeber für die Erhaltung der schlanken Figur oder „Die Gartenlaube“, die im Salon lagen.
Heimlich nahm sie sie mit, immer nur eine Ausgabe, damit man es nicht bemerkte, denn sie fühlte sich fast schuldig.
Auch heimlich legte sie sie an ihren Platz zurück, wenn sie aus ihrem Versteck hervorgekommen war, damit es ja niemand bemerkte.
Natürlich wusste jeder im Haus um die Änderung ihres Geschmacks, doch es gab niemanden, der sie darauf ansprach. Der Vater nicht, denn es interessierte ihn wenig, was seine Töchter trieben. Die Mutter nicht, weil sie es begrüßte, dass ihre Tochter langsam mit dem Erwachsenenleben vertraut gemacht wurde, die Geschwister fanden es blöd, aber für sie änderte sich ja nichts. Und das Personal schmunzelte nur und sprach von ihr nur als unserem Fräulein oder Freifräulein.
Allein Annabelle machte sich Sorgen, doch auch sie vermied jedes Wort, jedenfalls zunächst.
Wenn Viktoria aus dem Salon kam, mit hochrotem Kopf, als wäre sie das ganze Stück von der Trauerweide bis hierher gelaufen, dann sagte sie nicht: „Du brauchst doch nicht zu erröten, wenn du das Heft wieder an seinen alten Platz legst.“
Sie schwieg und dachte nur darüber nach, wann wohl der rechte Augenblick wäre, mit Viktoria ein erstes Gespräch von Frau zu Frau zu führen.
Es würde ihr nicht leicht fallen, und so schob sie es immer wieder hinaus. Mal war Viktoria zu erschöpft, mal zu erregt, mal war das Wetter zu schön und man flanierte im Kurpark oder saß mit der ganzen Familie auf der Terrasse oder machte mit dem Landauer einen Ausflug zum Steinhuder Meer oder in den Deister.
Dieses Thema verlangte Vertraulichkeit.
„Du sollst zu deinem Vater kommen“, sagte Annabelle, als Viktoria wieder einmal atemlos vor ihr stand.
„Aber bring erst deine Haare in Ordnung!“
Und damit es schneller ging, half sie, ordnete die Locken, entfernte das lanzettförmige Blatt der Trauerweide, das sich in ihrem Haar verfangen hatte und das ihr Vater missbilligt hätte.
„Was ist?“, fragte Viktoria aufgeregt.
Sie würde ihren Vater in einer Stunde sowieso beim Essen sehen. Warum diese Eile? Obgleich sie sich keiner Schuld bewusst war, war ihr nicht behaglich. Ein Einzelgespräch mit ihrem Vater bedeutete ein Verhör, fast eine hochnotpeinliche Befragung, mindestens eine Zurechtweisung oder gar eine Strafe.
Aber wofür?
Sie rekapitulierte alles, was sie heute getan hatte, und fand nichts. Auch gestern hatte sie sich nicht ungebührlich verhalten, da war sie sicher.
Nur die schwere Holztür zum Herrenzimmer trennte sie noch von dem Strafgericht.
Einen letzten Augenblick zögerte sie, dann klopfte sie.
„Herein!“
Langsam öffnete sie die Tür. Ihr Vater stand am Fenster und sah in den Garten, hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt.
Die Atmosphäre in dem Zimmer war so düster wie das ganze Zimmer. Im Gegensatz zu dem Salon und Speisezimmer waren die Möbel hier dunkel und schwer. Gewaltige Bücherschränke, alle mit Glastüren versehen, standen an den Wänden, ein riesiger Schreibtisch ragte in den Raum, in dem sich nur noch eine lederne Sitzgruppe, vier kaum zu bewegende Sessel und ein Rauchtisch, befanden.
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