Alles war bereit und wartete auf die Eigentümer.
Der erste Nachmittag war für Viktoria und Friederike immer besonders aufregend. Wer von den bekannten Familien war da? Gab es jemanden, den man nicht begrüßen, nicht einmal kennen durfte?
Und für Viktoria gab es eine neue Frage: Gab es einen jungen Mann, über den ‚man’ sprach?
Und wenn man über ihn sprach, sprach man voller Bewunderung oder voller Abscheu - oder von beidem?
Es war merkwürdig. Noch im letzten Jahr war sie mit Friederike durch den Kurpark getollt, hatte Papierbälle, zu kleinen Mäusen geformt, an dünne Fäden gebunden und plötzlich über die Wege gezogen, bevor die alten Damen über sie stolpern konnten, hatten sich an ihren Schreckensschreien ergötzt.
Das alles lag so weit zurück!
Sie betrachtete sich in dem Spiegel ihres Zimmers, sah sich noch einmal mit diesen riesigen Augen an, an denen sie so lange geübt hatte, holte tief Luft, dass ihr Jungmädchenbusen schwoll, und doch schrumpfte er zu ihrem Verdruss wieder auf das Normalmaß, als sie wieder ausatmen musste.
Sie war doch noch keine Frau!
Zwar war sie kein Kind mehr, aber sie war eben auch noch keine Frau! Ein schrecklicher Zustand.
Zwei Monate würde sie jetzt hier verbringen, und zum ersten Male wusste sie nicht, was auf sie zukommen würde.
Ganz sicher würde sie nicht mit Friederike und den anderen Mädchen, deren Eltern hier auch kurten, durch den hinteren Teil des Kurparks tollen, würde nicht all die verbotenen Spiele spielen, bei denen man sich schmutzig machen könnte.
Ganz sicher würde sie auch nicht in Begleitung Annabelles im Café sitzen und eine Schokolade trinken und ihren Blick gleichgültig oder gar gelangweilt über die anderen Gäste schweifen lassen.
Und – leider – würde sie schon gar nicht in Begleitung eines schönen oder interessanten jungen Mannes, vielleicht sogar eines Leutnants in Paradeuniform, durch den Park schreiten.
Weil sich das nicht schickte. Und weil sie keinen schönen oder interessanten jungen Mann kannte. Und es würde sich in so kurzer Zeit auch keiner finden!
Sie hatte wunderbare Kleider bekommen, extra für die Kur, sie würde sie stolz ausführen, sich gerade halten, wie ihre Mutter immer predigte, nicht in Pfützen treten wie noch im letzten Jahr, sondern über sie hinwegschweben. Sie würde sich benehmen wie ein Freifräulein.
Aber sie würde angesehen werden wie ein Kind, das herausstaffiert worden war, um zum ersten Mal auf dem Heiratsmarkt angeboten zu werden.
Sie erschrak bei diesem Gedanken.
Man erwartete von ihr, dass sie eine Rolle spielte, jetzt und in aller Zukunft. Sie würde sein müssen, wie man es von ihr erwartete, bescheiden und amüsant, zurückhaltend und kokett.
Für Friederike war es auch nicht leichter. Sie hätte fortfahren können, wo sie im Jahr zuvor aufgehört hatten, konnte weiter mit Gleichaltrigen spielen und alte Leute foppen, aber sie war jetzt ausschließlich auf fremde Kinder angewiesen.
Sie stellte sich vor, sie käme nach Hause, noch glühend vom Spielen, voller Begeisterung über ihren Mäusetrick, würde in Viktorias Zimmer eilen, um ihr zu erzählen. Und Viktoria würde vor dem Spiegel sitzen, irgendwo in ihm etwas anstarren und würde gar nicht reagieren.
Nein, nicht für Viktoria würden die Ferien fürchterlich werden. Die würde sich schon amüsieren.
Sie selbst, Friederike, war die Bedauernswerte.
Frau von Riefenstein machte bei meinem zweiten Besuch einen sehr viel agileren Eindruck als gestern.
Sie empfing mich voller Erwartung, und ihre Augen leuchteten, als ich die ersten Seiten hervorholte, die ich noch in der Nacht geschrieben hatte.
„Wie gut, dass ich schon alles vorbereitet habe, da können wir gleich beginnen“, sagte sie vergnügt und schenkte den Tee ein.
„Bitte lesen Sie es mir vor, meine Augen mögen heute nicht so recht. – Ich gebe Ihnen dann auch genügend neues Futter.“
Sie zeigte auf einen kleinen Stapel Bilder, der mit einem violetten Schleifenband zusammengehalten wurde.
Frau von Riefenstein schien einen ungeheuren Vorrat an Schleifenbändern und bunten Kordeln zu haben. Alles, was nur möglich war, wurde zusammengebunden. Briefumschläge schien sie zu verabscheuen.
„Violett“, erklärte sie, als sie meinen erstaunten Blick bemerkte, „violett ist die Farbe für Montag. Morgen werde ich gelb wählen.
Aber nun beginnen Sie endlich, junger Mann. Ich bin schon ganz neugierig.“
Sie war eine aufmerksame Zuhörerin.
Nicht einmal unterbrach sie mich, rieb sich ab und zu die Stirn, als wollte sie ihre Erinnerung heraufbeschwören, um sie mit meiner erfundenen zu vergleichen. Dann machte ich eine kleine Pause, um ihr Zeit zu geben. Wenn sie die Hand senkte und zu der anderen auf den Tisch legte, wusste ich, ich konnte fortfahren.
Manchmal schloss sie die Augen, lächelte ein wenig wie verklärt.
Ich war mir zwar nicht im Klaren darüber, was dieses Lächeln auf ihr Gesicht gezaubert hatte, aber ich würde es irgendwann erfahren.
Als ich fertig war, legte sie ihre rechte Hand auf meine linke, die auf den wenigen Blättern ruhte.
Es war eigenartig, diese alten, schrumpeligen Hände, die übersät waren mit braunen Altersflecken, auf meinen zu spüren, und ich fragte mich, was diese Geste wohl zu bedeuten hatte.
Ich hatte keine Großmutter mehr, die eine war schon vor meiner Geburt gestorben, und die andere als ich gerade erst acht Jahre alt war. Sie war vor ihrem Tode lange krank gewesen, und ich habe sie nur sehr selten gesehen. Aber jedes Mal hat sie meine Hand in ihre kalten Hände genommen, und jedes Mal hat es mich vor Kälte erstarren lassen. Meine Eltern mussten mich am Ende zwingen, dieses Gefängnis zu ertragen.
Als meine Großmutter gestorben war, tat es mir leid, dass ich so hart zu ihren Händen gewesen war, doch trotzdem fror ich allein bei dem Gedanken daran.
Frau von Riefensteins Hände waren noch älter, noch schrumpeliger, die Handrücken waren von dunkelbraunen Altersflecken noch dichter überzogen, und mich drängte alles, meine Hände in Sicherheit zu bringen. Aber ich traute mich nicht, ertrug die Umklammerung.
Ich war ja nicht mehr acht.
„Danke“, sagte sie leise und noch einmal: „Danke.“
Sie zog ihre Hände fort, griff nach der Gebäckschale und reichte sie mir, dann zog sie die Schleife von dem kleinen Bündel Briefe auf, breitete das Band auf dem Tisch aus und fuhr zweimal mit der Handkante darüber, um es zu glätten.
Zufrieden mit ihrem Erfolg, legte sie das Band zusammen und deponierte es etwas weiter hinten auf dem Tisch.
„Sehen Sie, das war unser Haus in Bad Rehburg.“
Versonnen sah sie die alte Fotografie an, strich mit der Hand liebevoll darüber, nahm sie hoch und hielt sie vor die etwas kurzsichtigen Augen und gab sie mir.
„Hier habe ich die schönste Zeit meines Lebens verbracht. Aber auch die schrecklichste.“
Sie kramte wieder in dem Rest ihrer Erinnerungen.
Ich traute mich nicht, sie zu unterbrechen, wartete, wenn auch ungeduldig, dass sie zu reden anfing.
Das nächste Bild zeigte einen kleinen Jungen im Matrosenanzug vor einem riesigen Weihnachtsbaum. Unter dem Baum lagen Geschenke, offensichtlich für den Jungen, ein Steckenpferd, eine kleine Trompete, eine Trommel und einige in buntes Papier gewickelte Pakete.
„Das war Georg“, sagte Frau von Riefenstein, und ihre Stimme klang auf einmal sehr traurig.
„Georg war unser Bruder“, fügte sie hinzu, als sie merkte, dass sie wohl noch nicht von ihm gesprochen hatte. „Er ist schon lange tot.“
Sie legte das Bild zu dem ersten Foto und griff das nächste: Drei Kinder waren der Größe nach aufgereiht vor einem riesigen Rhododendron und sahen ernst in die Kamera.
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