1 ...8 9 10 12 13 14 ...21 Er sagte kein Wort, doch er nickte leicht.
„Du bist bis auf Weiteres freigestellt“, ließ sich nun der andere Senior vernehmen, „Jemand wird dich in dein Büro begleiten, wo du deine persönlichen Dinge zusammenpacken kannst.“
Inga traute ihren Ohren nicht. Sie warfen sie hinaus wie eine Diebin.
Man gestattete Inga nicht, das Telefon zu benutzen, und sie versuchte über ihr Handy, Sabije anzurufen. Diese befand sich in einer Gerichtsverhandlung, hatte jedoch in weiser Voraussicht einen ihrer Leute instruiert. Auf seinen dringenden Rat hin ließ Inga sich das Mehrstück ihrer Kündigung unterschreiben, gab die Firmenschlüssel gegen Quittung zurück und bestand darauf, dass ihre Bürotür geöffnet blieb, während sie packte.
Detlef lümmelte sich grinsend an ihrem Schreibtisch, in ihrem Drehsessel, und ließ Gemeinheiten los. Wahrscheinlich holte er sich dabei unter dem Tisch einen runter. Von diesem Triumph würde er lange zehren. Eine Bestätigung mehr, dass ihre Entscheidung richtig gewesen war. Inga achtete darauf, nicht in seine Reichweite zu gelangen. Sie hasste es, ihm diese Genugtuung zu verschaffen, doch sie behielt ihn argwöhnisch im Auge. Eine gestandene Karrierefrau, die sich jede Gefühlsregung verbot und im weiten Bogen um ihn herum huschte, um ihn nicht zu reizen: Wie erbärmlich ihre Angst doch war.
Im Türrahmen erschien der Anwalt, mit dem sie eben telefoniert hatte. Er war der mit Abstand bestaussehende von Sabijes Angestellten, fünf Jahre jünger als Inga (und fast zehn Jahre jünger als Detlef), einen Meter neunzig groß und muskulös, was er mit maßgeschneiderten Anzügen noch betonte. Sabije hatte den Mann, der ihren Rückzug decken und den Karton mit ihren Habseligkeiten schleppen sollte, mit Bedacht ausgewählt. Inga mochte ihn schon immer, aber nie hatte sie sich so gefreut, ihn zu sehen. Vor Erleichterung hätte sie fast die kleine rote Vase fallen lassen, die sie in ein Stück Zeitung wickeln wollte.
„He Sie, das ist privat! Raus hier, aber plötzlich“, pflaumte Detlef den Fremden in einem Anflug von Größenwahn an. Offensichtlich riss ihn die Aussicht auf Ingas Position und ihr Eckbüro zu Dummheiten hin.
Der Anwalt gewährte ihm sein berüchtigtes Raubtierlächeln, welches vor Gericht die Vertreter der Gegenseite regelmäßig tiefer in ihre Sitze sinken ließ. Verschreckt erhöhte Detlef Lautstärke und Intensität seiner Schimpfkanonade, was den Tiger unbeeindruckt ließ, jedoch mehrere Mitarbeiter und zwei Seniorpartner auf den Plan rief. Mit offenem Mund verfolgten sie die Szene.
„Für einen polizeibekannten Frauenschläger riskieren Sie ´ne verdammt dicke Lippe“, sagte der Anwalt freundlich und lächelte in die Runde.
„Das ist eine maßlose Übertreibung!“ schrie Detlef. „Die Ärztin hat ja kaum was festgestellt, und wenn dieses Luder mich nicht so gereizt hätte ...“
„Ah ja, die Masche ‚Täter wider Willen’. Nun enttäuschen Sie mich aber. Von einem Mitarbeiter dieser renommierten Werbeagentur hätte ich etwas Originelleres erwartet.“ Der Anwalt klemmte sich den schweren Karton unter den Arm, als handele es sich um eine Packung Windeln, und führte Inga mit der anderen Hand galant hinaus.
Sie hängte sich bei ihm ein und tat so, als würde sie die gaffenden Exkollegen nicht bemerken. Die grell Lackierte reckte den Hals. Im Hintergrund hörte sie ihren ehemaligen Chef sagen:
„Detlef, ich hätte dich gern für eine Minute in meinem Büro gesprochen.“
Ohne zurück zu schauen, kehrte Inga sechs Jahren ihres Lebens und dem Mann, mit dem sie einmal Tisch und Bett geteilt hatte, den Rücken.
Am selben Abend platzte Ingas Wohnung fast aus allen Nähten. Sie hatte spontan beschlossen, ihre neue Freiheit zu feiern, und so viele Freunde zusammengetrommelt wie möglich. In einer launigen Ansprache bedankte sie sich bei ihren treuen Heinzelmännchen vom Winter und bot sich für Gelegenheitsarbeiten aller Art an. Fast aller Art, korrigierte sie hastig, als Witze und Gelächter erklangen. Ralf versprach, ihr so viel Brennholz zu liefern, wie sie brauchte. Falls sie etwas Warmes in den Bauch bekommen wolle, sei sie jederzeit an ihrem Tisch willkommen, lächelte Hilke. Es hagelte Einladungen zum Essen und Tipps, wo sie kostenlos Obst pflücken konnte ,damit sie nicht verhungerte’.
Inga hob ihr Glas. „Darauf lasst uns trinken, solange ich den Wein noch bezahlen kann. Auf das Leben und die Liebe!“
Jemand fing an, auf seiner Gitarre zu klimpern, ein Akkordeon setzte ein. Bald sangen und tanzten alle Gäste, wo immer sie Platz dazu fanden, sogar auf dem Klo.
Gleichmäßig schnurrte der mitternachtsblau lackierte Spider auf der leeren Autobahn dahin. Robson lehnte sich im Fahrersitz zurück, eine Hand am Sportlenkrad, die andere lässig auf der Mittelkonsole. Über einen an den Bordcomputer angeschlossen BlackBerry hörte er sich Mitschnitte des gestrigen Konzerts an.
Mann, das war einfach nur geil gelaufen. Das Publikum hatte ihm vom ersten Song an praktisch aus der Hand gefressen. Alle Bandmitglieder in Hochform, kein einziger Patzer, jeder Ton saß. Natürlich strichen wieder viele hübsche Frauen um ihn herum, angezogen vom Ruhm wie die Motten vom Licht. Er nahm eine knackige Blondine mit ins Hotel, deren phantasielose Anhimmelei ihm jedoch bald auf die Nerven fiel. Leider stellte sich außerdem heraus, dass ihre Haare schlecht gefärbt und ihre Fingernägel abgekaut waren. Rob hatte an ihrem ungepflegten dunklen Haaransatz vorbei an die Wand gestarrt, während er mühsam in ihr kam. Sie würde wahrscheinlich in diesem Moment all ihre Freundinnen anrufen, um damit anzugeben, mit dem Sänger der Muddy Blue Waters gebumst zu haben.
Geschieht mir ganz recht, dachte Rob, ich hätte lieber mit einem guten Buch ins Bett gehen sollen. Na, Schwamm drüber. Alles was zählte war die Musik. Rob drehte die Lautstärke auf und sang aus voller Kehle mit.
Dr. Stefan Prudens starrte stumm in seinen Tee. Er war vor seinem Schreibtisch geflüchtet, auf dem zwei OP-Berichte darauf drängten, fertiggestellt und an den Oberarzt weitergeleitet zu werden. Und nun fühlte er sich zwischen den schwatzenden Kollegen im Aufenthaltsraum ebenso fehl am Platz wie im Büro, wie in diesem gesamten verdammten Gebäude.
Immer häufiger dachte er, dass es ein Fehler gewesen war, dem Wunsch seines Vaters zu folgen und Medizin zu studieren. Er hätte mit Holz arbeiten, Zimmermann werden wollen. Stattdessen beugte er sich der Familientradition. Wobei er einen krummeren Buckel bekam als durch jeden Handwerksberuf. Es schien, als würde es ihm nie wieder gelingen, den Rücken gerade zu machen. Eingesperrt in der Klinik, im Auto, im Schlafzimmer, träumte er nachts davon, über Dächer zu balancieren, frische Balken zu riechen.
„Na, Prudens, fertig mit dem Papierkram?“ Dr. Rettig schlenderte herein, machte sich auf dem freien Stuhl neben Stefan breit und beugte sich vertraulich zu ihm hinüber. „Nicht, dass unser Schönling noch ungeduldig wird ...“
Stefan ging Rettigs Distanzlosigkeit zusehens auf die Nerven. Zum Einen dieselte der Mann sich mit einem Parfüm voll, das für jede Nase, die sich nach Holzgeruch sehnte, eine schallende Ohrfeige darstellte. Stefan bemühte sich, durch den Mund zu atmen, wie er es in der Pathologie gelernt hatte. Zum Anderen schien seine Neugierde keine Grenzen zu kennen, schnüffelte und huschte er durch die Flure wie eine Ratte. Woher wusste der Kerl, dass Oliveira bereits auf seine Berichte wartete? Es fiel in die Zuständigkeit des Oberarztes, die Assistenzärzte zu beurteilen, zu fördern oder wenn nötig feuern zu lassen. Stefan hatte kein Problem damit. Zwar fand er Dr. Oliveira etwas schroff, und es wäre ihm lieber gewesen, wenn der nicht ganz so gute Chancen beim weiblichen Geschlecht gehabt hätte. Aber er konnte nichts wirklich Negatives über seinen Vorgesetzten sagen.
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