„Ich muss Ihnen etwas Wichtiges sagen.“ Jetzt gab es kein Zurück, keinen festen Boden mehr unter den Füßen. „Ich habe mich in Sie verliebt. Auf den allerersten Blick.“
Du lieber Himmel, ich kann nicht glauben, dass ich das wirklich gesagt habe, dachte Inga, während sie sich eine ganze Menge unsortiertes Zeug reden hörte über seine Augen und ihre Gefühle und den Blumenkübel im Hof. Wie im Nichtschwimmerbecken strampelte sie wild herum, um sich irgendwie über Wasser zu halten. Endlich schaffte sie es mit Mühe, ihren Redefluss zu stoppen. Für einen Moment bekam sie Angst, nie wieder normal atmen zu können. Vorsichtig blinzelte sie zu ihm herüber.
Ohne eine Spur von Verlegenheit erwiderte er ihren Blick, antwortete mit seiner normalen, freundlichen Stimme: „Das muss ich erstmal eine Weile sacken lassen.“
Auf einmal fühlte Inga sich überhaupt nicht mehr ängstlich und verlegen. Er war nicht zurückgeprallt, nicht peinlich berührt, sondern begegnete dem unerwarteten Liebeskuddelmuddel ganz entspannt und offen. So, wie er anscheinend allem im Leben begegnete, in einer aufgeschlossenen, ruhigen, ja: demütigen Weise.
Das Wort ‚Demut’ klang für Inga bisher eher negativ geprägt, nach Unterwerfung oder blindem Gehorsam. Nun fiel ihr der Begriff wieder ein, als sie versuchte, seine Haltung in Worte zu fassen. Demut, das schien die passende Bezeichnung für Michael Levins ruhige Akzeptanz dem Leben gegenüber und seine seltene Fähigkeit, sich selbst zurücknehmen zu können, ohne sich aufzugeben.
„Sind Sie okay?“ fragte er behutsam, „Kann ich Ihnen etwas dazu sagen?“
Inga nickte stumm. Sie wagte nicht, ihn dabei anzusehen und senkte den Blick auf seine Hände. Am rechten Handgelenk trug er zwei Lederbänder, ein geflochtenes und eines mit silberfarbenen Perlen und Knoten. Sie fragte sich, ob es wohl von demselben Silberschmied wie sein Amulett stammte, und ob die Anordnung der Perlen etwas bedeutete.
„Mit einer Frau, die ich als Patientin kennen gelernt habe, würde ich grundsätzlich nichts anfangen. Zwischen Therapeut und Patient besteht nun einmal eine einseitige Abhängigkeit. Ich weiß ziemlich viel von Ihnen, Sie können mir ganz offen alle Ihre Krankheits- und Lebensgeschichten erzählen. Aber ich selber gebe in der Praxis nichts von dem Michael preis, der ich privat bin.“
Das ist nicht wahr, begehrte Inga innerlich auf. Du hast mir so viel von dir erzählt, was dir wichtig ist und was du nicht magst. Allein die Bemerkungen, die du in unseren Gesprächen machst, die Art, wie diese Räume eingerichtet sind und wie du aus dem Fenster siehst ... Spontan wollte sie widersprechen, doch es gelang ihr, sich zu bremsen. Sie würde lediglich erreichen, dass er ihr gegenüber künftig weniger mitteilsam wäre.
„Wir werden ausprobieren, ob Ihre Behandlung noch funktioniert. Einen Menschen, der mir zu nahe steht, könnte ich nicht behandeln. Bei meinem Bruder zum Beispiel fand ich es ziemlich schwierig. Aber ich glaube, dass es klappen wird. Und Sie müssen sehen, ob es für Sie in Ordnung ist, sich weiter von mir behandeln zu lassen.“
Die Übungen liefen dann genau wie immer ab. Sanft und umsichtig beugte und dehnte er ihre Hand, gab die Anweisungen mit leiser Stimme, erwiderte ihr Lächeln. Als sie sich zum Abschied die Hände schüttelten, fragte er:
„Und? War es schwierig für Sie?“
Inga fand die Frage abwegig, war ihre Situation doch seit dem ersten Termin unverändert. Aber dann fiel ihr ein, dass es für ihn Neuland darstellte, was er da betreten musste.
„Nein, ist in Ordnung.“
„Ja, den Eindruck hab ich auch. Bis zum nächsten Mal dann.“ Er öffnete ihr die Tür und begleitete sie in den Hof.
Neben dem Springbrunnen drehte sie sich zu ihm um und sah ihm in die Augen. „Sie müssen mich nicht retten, wissen Sie.“
Michael Levin lächelte und zeigte dabei sein Grübchen.
Während sie durch das Tor auf die Straße ging, fühlte sie sich froh und traurig zugleich. In dem Moment, als sie ihm ihre Liebe erklärte, war das wie ein Abschied gewesen. Ein Abschied wovon, überlegte Inga. Von einem Traum.
Indem sie den Mund aufmachte, war sie von ihren Träumen, in denen alles möglich schien, in die Realität gewechselt. Sie hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, dass er sie in seine Arme reißen und küssen würde. Womit dann? Mit einer Reaktion, die ihr einen Vorwand geboten hätte, ihn zu hassen? Die souveräne Art, wie er mit der Situation umgegangen war, ließ ihn nur noch liebenswerter erscheinen. Und gleichzeitig unerreichbarer.
Inga fuhr geradewegs zum Aussichtsturm an der Elbe. Egal, in welcher Stimmung sie die Stufen empor stieg, stets schienen mit jedem Schritt die Probleme, die Wut und die Angst und die Traurigkeit weiter zurück zu bleiben, kleiner zu werden wie Steine auf dem Waldboden. Unzählige Male war sie schon hier gewesen, und nie verfehlte die weite Landschaft ihre beruhigende Wirkung. In Sturm und Regen hatte sie am hölzernen Geländer gestanden, bei flirrender Hitze und bei Glatteis, wenn die Treppe eigentlich lebensgefährlich war. An klaren Tagen konnte man glauben, bis nach Hamburg schauen zu können. Zwei Bussarde kreisten am Feldrand, vielleicht ein Pärchen. Außer dem leichten Rauschen der Baumwipfel hörte man keinen Laut.
Schrilles Kläffen gellte durch den Hamburger Hauptbahnhof und sorgte für Aufsehen. Die schmutziggelbe, krummbeinige Töle, die den Lärm verursachte, trug ein edles Halsband mit funkelnden Swarovskisteinen und passender Leine. Am Ende der Leine hing Jörg, in dunklen Hosen und einem Hemd von Boss, und ließ sich über den Bahnsteig schleifen. Es war die sicherste Methode, seinen Besuch im dichten Gewühl zu finden.
„Zwiebel!“ rief Inga lachend, und die Hündin legte an Tempo und Phonstärke noch zu. Nachdem die drei sich ausgiebig begrüßt hatten, beruhigte sich der Aufruhr. Durch die Menge der Reisenden an Gleis elf ging ein kollektiver Seufzer der Erleichterung.
An der Alster ließ Jörg seinen Hund frei laufen. Während Zwiebel hierhin und dorthin schnüffelte, bummelten die Zweibeiner hinterher.
„Du hast sie scheren lassen, oder?“
„Genaugenommen hab ich es selbst gemacht. Sag`s bloß nicht weiter. Wenn meine Kundinnen das mitbekommen, schleppen sie mir sofort ihre eigenen Köter in den Laden.“
Vor der pompösen Einfahrt zum Maritim leinte Jörg die Hündin wieder an. Nicht, dass Zwiebel sich nicht zu benehmen wusste. Vielmehr wollte Jörg dem strengen Portier unmissverständlich signalisieren, dass sie zusammen gehörten. Einen Herrn Neverland würde niemand in Hamburg abweisen, selbst wenn er in Begleitung eines verlausten Affen erschiene. Jörg und Inga machten es sich an einem schönen Platz am Fenster mit Blick auf die Alster gemütlich, während ein livrierter Kellner ohne mit der Wimper zu zucken einen Wassernapf aus feinstem Porzellan vor Zwiebel auf das Parkett stellte.
„So, mein Goldstück, dann bring mich mal auf den neuesten Stand. Bei dir hat sich ja wohl einiges getan, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben.“
Die beste Methode, Jörg zum Reden zu bringen bestand darin, ihm erst einmal ihre eigenen Sorgen zu erzählen. Umso leichter würde es ihr danach fallen, herauszufinden, was ihn bedrückte. Als Inga versuchte, in Kurzfassung von den Ereignissen der letzten Wochen zu berichten, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass in ihrem Leben kaum ein Stein auf dem anderen geblieben war. Kein Wunder, dass es Jörg vollkommen überforderte, alle Neuigkeiten zu verdauen. In dieser Verfassung, das wusste Inga aus langer Erfahrung, war es ein Kinderspiel, ihm seine intimsten Geheimnisse zu entlocken. Sie musste auch gar nicht lange bohren, um zum Kern des Problems zu gelangen: Claudia. Aus Ingas Sicht ein kaltherziges, egoistisches Biest, das den gutmütigen Jörg nur ausnutzte und sich einen Dreck um seine Gefühle scherte. Zum ersten Mal schien Jörg sich nun gewehrt zu haben, was Inga kaum fassen konnte. Das war ja wirklich höchste Zeit gewesen. Aber wie hatte er den Durchbruch geschafft? Millimeterweise holte sie es aus ihm heraus.
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