Die Tür flog auf, und Bärbel Lohmann wirbelte mit zerzausten roten Locken in den Raum. „Hallo zusammen, ich will nur mal schnell ...“ Sie versuchte, drei schmutzige Tassen, durch deren Henkel sie ihre Finger gehakt hatte, neben der Spüle abzustellen. Im anderen Arm hielt sie einen Stapel Aktenmappen.
Stefans Miene erhellte sich. „Frau Lohmann! Warten Sie ...“ Er sprang auf und griff vorsichtig nach den Tassen. „Machen Sie jetzt Pause?“
Bärbel bewegte ihre befreiten Finger. „Würde ich gern. Aber ich muss für Dr. Oliveira die neuen OP-Pläne vorbereiten, die braucht er morgen früh.“ Sie packte ihre rutschende Aktenlast mit beiden Händen und wandte sich zur Tür. „Danke für Ihre Hilfe.“
„Jaja, so ist das ...“ Rettigs Aftershave stieg von neuem in Stefans Nase. „Casanova pfeift, und die Weiber springen.“
Stefan seufzte. Er selbst hatte einfach keine Chancen bei den Frauen. Nie gehabt. Wer würde einen unscheinbaren Typen wie ihn schon wahrnehmen? Nicht groß und nicht klein, weder dick noch dünn, mit einer Haarfarbe zwischen blond und braun ... Der ideale Mörder, so unauffällig, dass sich kein Zeuge an ihn erinnern könnte. Als Frau würde er sich selber auch nicht sehen neben diesem charismatischen Halbgott in Weiß, dem die brasilianischen Gene einen leicht gebräunten Teint wie aus dem Solarium geschenkt hatten, dessen durchtrainierter Körper sogar im OP-Kittel toll aussah. Er wirkte so ekelhaft perfekt! Jede zweite Schwester war hinter Oliveira her, und die Patientinnen flogen auf ihn. Stefan wusste ziemlich sicher, dass der Oberarzt nicht die Dummheit besaß, sich mit einer Patientin einzulassen. Was das Personal anging, fand er das vielleicht weniger heikel. Stefan dachte an Bärbel Lohmann und biss die Zähne zusammen.
„Kopf hoch, Kollege“, raunte Rettig, der schon wieder viel zu dicht neben im stand. „Casanovas Tage hier sind gezählt ...“
Was hatte Rettig nur immer mit Dr. Oliveira? Stefan achtete eigentlich nicht auf solche Dinge, doch allmählich kam es ihm vor, als hege Rettig einen ganz besonderen Groll. Ob die Panne mit der Gipsschiene damit zusammenhing, die Rettig einer hübschen blonden Dame voreilig abgenommen hatte? Die Radiusfraktur der Dame war verrutscht, Rettig hatte einen ordentlichen Einlauf kassiert - mehr nicht. Es musste doch selbst ihm klar sein, dass er den Rüffel verdient hatte. Dass er froh sein konnte, wenn die Patientin ihn nicht verklagte.
„Hier.“ Rettig blieb hartnäckig. Er klappte sein Handy auf und hielt es Stefan triumphierend unter die Nase.
Das Foto im Display zeigte Dr. Oliveira, wie er am Krankenbett einer hellblonden Frau stand, die Hand nach ihr ausgestreckt. War das nicht die mit der Gipsschiene? Stefan konnte problemlos deutsches Kiefernholz von nordischem unterscheiden, erkannte auf der Straße aber kaum seine Nachbarn. Und im Profil, halb verdeckt ... schwer zu sagen. Es gab noch zwei weitere Aufnahmen, offensichtlich durch einen Türspalt fotografiert, auf denen Oliveira ihr die OP-Haube abnahm. Unten rechts im Bild standen Datum und Uhrzeit eingeblendet.
„Da muss man sich doch fragen“, grinste Rettig anzüglich, „was ein Chirurg um zwei Uhr dreißig ganz allein am Bett einer jungen, hübschen Patientin zu suchen hat?“
„Wer möchte noch eine Portion ‚Red Beauty’?“ Hilke lud großzügig Nudeln und Hackfleischsauce auf die Teller.
Inga langte zu. Nachdem sie den ganzen Morgen bei den Schafen geholfen hatte, war sie hungrig wie ein Wolf. „Was ist ‚Red Beauty’?“
„Du meinst wohl: Wer war ‚Red Beauty’.“ Ralf lachte. „Unsere Kuh bekommt jedes Jahr ein Kalb, und wenn das in die Flegeljahre kommt, also ungefähr zehn, elf Monate alt ist, schlachten wir es. Glaub mir, so niedlich die kleinen Kälbchen am Anfang sind, so froh ist man später, wenn der Schlachter auf dem Hof steht. Red Beauty war besonders nervig. Er hat den ganzen Tag Schafe gescheucht und zwei Pferche zerlegt.“
„Ja, und unsere Erdbeerpflanzen gefressen.“
„Dem Grünkohl dagegen hat er kein Blatt gekrümmt“, bedauerte Ralf.
Hilke warf ihm einen strengen Blick zu. „Ich war jedenfalls drauf und dran, mir ein großes Messer aus der Küche zu holen und ihm eigenhändig die Kehle durchzuschneiden.“ Sie bemerkte, dass Inga die Gabel sinken ließ, und seufzte. „Sieh mal, von diesem Rind essen wir ein Jahr lang, und wir versorgen noch alle Nachbarn mit Fleisch. Ich finde, das ist eher vertretbar als zum Beispiel Hühner zu schlachten oder Kaninchen. Da müssen gleich mehrere Tiere sterben, um nur eine Mahlzeit auf den Tisch zu bringen.“
„Du hast Recht. Und bei euch hat das Tier ein artgerechtes Leben gehabt, keinen ewig langen Schlachttransport ...“ Inga musste zugeben, dass der Jungbulle ausgezeichnet schmeckte. „Ich bin halt `ne Stadtpflanze. Ohne die leiseste Ahnung, wie das Essen auf den Tisch kommt.“
„Ach, bis jetzt stellst du dich doch ganz ordentlich an. Vor allem, wenn man bedenkt, dass du deinen linken Arm noch nicht wieder richtig benutzen kannst ... Wie sieht`s aus, hilfst du nächste Woche beim Honig abfüllen?“
„Nun übertreib es nicht, Hilke. Lass uns erst mal abwarten, wie sie den heutigen Arbeitseinsatz wegsteckt.“
Ralf passte es gar nicht, dass Inga ihren Arm schon so stark belastete, auch wenn sie immer wieder versicherte, der Chirurg habe dringend dazu geraten. Sie hatte ‚Gas gegeben’ wie von Dr. Oliveira empfohlen, ging zweimal pro Woche zur Krankengymnastik und absolvierte zu Hause brav ihre Übungen. Für ihr Handgelenk konnte Inga deutliche Erfolge verbuchen, es wurde zusehens geschmeidiger und beweglicher. Was ihr Herz anging, war sie anfangs skeptisch gewesen, hatte ihren eigenen intensiven Gefühlen dem Therapeuten gegenüber nicht recht getraut. Würde sie beim zweiten Termin nur einen sympathischen Krankengymnasten in ihm sehen? Hatte sie sich geirrt? Gespannt hatte sie den Moment erwartet, da er durch die Tür kommen und sie begeistern oder enttäuschen würde.
Nein, sie hatte sich nicht geirrt. Mit jedem Wiedersehen vertiefte sich die Liebe, die sie Michael Levin gegenüber empfand. Sie genoss die privaten Gespräche, die sich vor oder nach der Behandlung ergaben und immer viel zu kurz waren. Den Rest des Tages verbrachte Inga stets damit, in Gedanken wieder und wieder seiner warmen Stimme zuzuhören, seinem trockenen, feinen Humor ...
„Äh - was? Ach so, Honig. Klar. Wann soll`s denn losgehen?“ Da hatte sie schon wieder angefangen zu träumen.
Ihre Freunde grinsten und erklärten es noch einmal. „Bei Rapshonig muss man genau den richtigen Zeitpunkt abpassen. Ist er zu flüssig, wird er später im Glas zu einer steinharten Masse, die der Kunde mühsam herausmeißeln muss. Wird er zu fest, bekommt man ihn nicht mehr aus dem Tank“, sagte Hilke. „Ralf liegt tagelang auf der Lauer, um den Kristallisierungsprozess zu beobachten. Wenn der Honig gut ist, muss man quasi alles fallen lassen, was man gerade in Händen hat, und sofort abfüllen.“
„Aber wie machen das denn die großen Firmen?“
„Naja, Zusätze sind offiziell verboten. Der Honig wird in der Regel erhitzt.“
„Steht denn da nicht immer ‚kalt geschleudert’ drauf ...?“ Inga versuchte, sich zu erinnern. Ernährung hatte bisher für sie bedeutet, nach Feierabend durch den Supermarkt zu hetzen und in Plastik eingeschweißte Dinge in ihren Einkaufskorb zu werfen.
„Stimmt - weil es überhaupt keinen Sinn macht, die Waben beim Schleudern zu erwärmen. Im Gegenteil. Aber das sagt ja nichts darüber aus, ob der Honig nicht zu einem anderen Zeitpunkt erhitzt wird ...“ Hilke zwinkerte ihr zu. „Dir brauche ich doch wohl nicht zu erklären, wie Werbung funktioniert.“
„Nee.“ Inga schüttelte nachdenklich den Kopf. Werbung nicht - aber das Landleben. Auf Drossels Hof gab es frisches Fleisch, wenn der nächste Jungbulle schlachtreif war, und neuen Honig, wenn die Bienen ihn gesammelt hatten. Man richtete sich nach dem Rhythmus der Natur, die einen ernährte. „Es wird mir eine Ehre sein, an eurem Qualitätshonig mitzuwirken. Sagt mir Bescheid, und ich verspreche, die scheußliche braune Vase meiner Schwester fallen zu lassen und herbeizueilen.“
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