Sie bemerkte, wie die Anspannung von ihr abfiel, während sie die Hand nach der Misbaha, die Gebetskette, ausstreckte, die stets in einem hölzernen Kästchen auf dem Schreibtisch bereit lag. Langsam ließ sie Perle für Perle durch ihre Finger gleiten. Es gibt keinen Gott außer Allah ... Merkwürdig, dachte Inga, dass jede Religion sich für die einzig wahre hält und sie sich doch so ähneln. Ob Imam, Priester oder Rabbi - stets bleibt es männlichen Stimmen vorbehalten, Gott anzurufen.
„Ahlan wa-sahlan. Willkommen.“ Sabije betrat das Büro, legte ihre Aktentasche auf einen Stuhl und umarmte Inga herzlich.
„Schön, dass du mich besuchst. Ich habe eine Stunde Zeit. Wollen wir zum Italiener rüber oder uns etwas liefern lassen? Ich muss dir unbedingt von Magnus erzählen.“
„Lieber was liefern lassen. Wer ist Magnus?“
„Ein sehr sympathischer Spezialist für Einschusslöcher. Moment ...“, Sabije drückte eine Taste an ihrem Telefon.
„Gemma, bitte bestellen Sie uns eine kleine Pizza Piccante und ...“, sie sah fragend zu Inga herüber.
„Eine Pizza Spinaci, bitte. Auch eine kleine.“
„Haben Sie das? Danke.“ Sabe wandte sich wieder an ihre Freundin. „Nun sprich dich aus. Was ist passiert?“
„Woher weißt du nur immer so schnell Bescheid?“
„Dein Gesicht hat es mir sofort verraten. Und die Perlen. Jedes Mal, wenn du die Misbaha zur Hand nimmst, bist du wegen irgend etwas sehr erregt. Bevor du mir nicht gesagt hast, was es ist, kann ich dir mein kleines Erlebnis nicht erzählen.“
Nachdem Inga ihre Untersuchung ausführlich geschildert hatte, berichtete Sabije von einer vielversprechenden Verabredung mit dem erwähnten Magnus, schien aber nicht ganz bei der Sache. Sie kam wieder auf Ingas Untersuchung zurück. „Wie wird es denn jetzt weitergehen? Macht die Heilung Fortschritte?“
Inga registrierte, dass Sabe sich mit Bemerkungen über Dr. Oliveira zurückhielt und sich stattdessen auf die medizinische Seite konzentrierte. Irgend etwas schien an ihr zu nagen. Inga wusste, ihre Freundin würde nicht darüber sprechen. Nicht, bevor sie die Zeit als reif dafür befand.
„Meine Hausärztin sagt mir, ich soll schonen und hochlagern und kühlen“, seufzte Inga. „Der eine Krankengymnast vertröstet mich wochenlang. Der nächste zitiert Statistiken, wonach eher zuviel tun schadet als zu wenig. Ich bekomme von sechs Leuten zehn Meinungen, und das ist nicht annähernd so lustig, wie es sich anhört.“
„Und was sagt dir dein Bauch?“ Sabije stellte stets die richtigen Fragen.
„Wahrscheinlich sollte ich mir einen neuen Physiotherapeuten suchen und tatsächlich Gas geben, wie der Oberarzt gesagt hat. Nur - wen soll ich diesmal ausprobieren? In Lüneburg scheint es hunderte zu geben.“
„Marianne war bei einer kleinen Praxis in der Altstadt, und einen Klienten habe ich auch schon dorthin geschickt. Bis jetzt habe ich nur Gutes von diesem Therapeuten gehört. Seine Freundin ist bei Janne in der Tanzgruppe. Er heißt Levin. Michael Levin.“
Am Morgen, an dem ihr erster Termin bei dem Physiotherapeuten Michael Levin anstand, spazierte Inga ahnungslos vom Parkplatz bei den Sülzwiesen in Richtung Innenstadt. Sie liebte es, zu Fuß unterwegs zu sein. Es war der erste milde Frühlingstag nach einem langen Winter. Inga genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht, öffnete den Reissverschluss ihrer Jacke und lockerte den Schal: himmlisch. Später sollte sie sich an jedes Detail erinnern, an die genaue Form der Bilderbuchwolken am blauen Himmel, die Pflastersteine der Straße, daran, wie die Frühlingssonne auf die dunkelroten Klinker der Hausmauer fiel. Auch nach Jahren noch würde sie, wenn sie die Augen schloss, den andalusischen Blumenkübel neben der Tür sehen, in dem später Petunien und Brachyscome wuchern sollten. Vorerst jedoch ahnte sie nicht, dass ein einziger, Sekundenbruchteile dauernder Augenblick ihr Leben auf den Kopf stellen könnte, dass am Abend dieses Tages nichts mehr sein würde wie bisher.
Gut gelaunt bog Inga von der Unteren Ohlinger Straße in die Christel-Heinz-Straße ein. Sie schritt an der blutrot gestrichenen Fassade von Haus Nummer vier vorbei, Nummer sechs ... Nummer acht. Hier musste es sein. An der Mauer wies ein blauweißes Schild aus maurischen Fliesen den Weg:
Praxis für Physiotherapie
Michael Levin
Eingang im Hof
Daneben befand sich ein großes, hölzernes Tor, dessen rechter Flügel einladend offenstand. Inga trat in einen Innenhof mit berankten Wänden, mehreren Sträuchern und sogar einem kleinen runden Springbrunnen, der noch mit altem Laub bedeckt im Winterschlaf lag. Dem Tor gegenüber duckte sich ein kleines, windschiefes Fachwerkhaus aus rotem Backstein und krummen Holzbalken. Auch hier ein Schild. Links neben der Haustür stand ein großer, andalusischer Blumenkübel, in dem erste Stiefmütterchen blühten. Rechts eine rustikale Holzbank, davor ein Tisch aus einem alten Mühlrad. An der Hauswand leuchtete das gleiche gelbe X aus gekreuzten Brettern, Symbol des Widerstands gegen Atomkraft, das auch am Eingangstor hing. Spatzen hüpften über die Feldsteine, mit denen der Hof gepflastert war. In einem heruntergekommenen Nachbarhaus spielte jemand Geige. Außer den Melodien, die zart herüberwehten, und einigen Singvögeln war nichts zu hören. Die umliegenden Gebäude schirmten alle Geräusche der Stadt ab.
Wie schön musste es sein, im Sommer hier draußen auf seinen Termin zu warten. Inga konnte sich vorstellen, absichtlich eine ganze Stunde zu früh zu kommen, nur um auf der Bank zu sitzen und dem Plätschern des Springbrunnens zuzuhören. Hier hatte jemand mit viel Liebe für alte Dinge und südländische Lebensart ein Paradies geschaffen. Einen Ort mit einer sehr friedvollen, ja heilsamen Atmosphäre.
Inga fand keine Klingel, drückte probeweise die Klinke der Haustür, die sich knarrend öffnete. Drinnen herrschte wie erwartet schummriges Halbdunkel. doch mit seinen gekalkten Wänden und der sparsamen Einrichtung wirkte der kleine Flur trotzdem nicht beengt. Eine Wand war bis auf das Fachwerkgerüst entfernt worden, und in diesem Wartebereich stand eine Sammlung verschiedener antiker Stühle. Inga schmunzelte über die Beschriftung mehrerer Zimmertüren. Altes Messing oder abgeplatzte Emaille verkündeten: ‚Sanitätsbaracke’, ‚privat’, ‚Badkamer’ oder ‚Bei Verlassen des Zuges Handgepäck nicht vergessen’. Auf einem Küchentisch aus der Gründerzeit lagen neben Flyern der Anti-Atom-Bewegung verschiedene Zeitungen aus: Hamburger Abendblatt, Geo, die taz ... Eine angenehme Abwechslung zu den Klatschblättern oder zwei Jahre alten Ausgaben des Spiegel, die man sonst in Wartezimmern fand. Da unter den Anti-Atom-Broschüren keine war, die sie noch nicht kannte, machte Inga es sich mit der taz in einen Armlehnstuhl aus der Jahrhundertwende bequem.
Ein Mann trat aus der Tür mit der Aufschrift ‚Sanitätsbaracke’, verschwand mit einem „Bitte noch einen Moment“ in einem anderen Raum, kam zurück und bat sie hinein. Sie setzte sich auf den angebotenen Stuhl, er nahm ihr gegenüber Platz. Inga stellte ihre Tasche ab, richtete sich wieder auf. Und dann sah sie ihm zum ersten Mal direkt ins Gesicht.
Es traf sie ganz unvorbereitet und mit voller Wucht, gerade so, als würde sie von einer Naturgewalt gepackt und emporgehoben, gegen die Wand geschleudert. Sein Blick haute sie einfach um.
Michael Levin war ein braungebrannter Typ mit einem offenen, etwas jungenhaften Gesicht. In seinem dichten, graumelierten Haar fanden sich Spuren von mittelblond bis hellbraun, was eine Mischung von ungewöhnlichem Reiz ergab. Er trug ein weit aufgeknöpftes, gestreiftes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln in einer interessanten rotbraunen Farbkombination über uralten, ausgeblichenen Jeans. Seine entspannte Körperhaltung, seine Gestik drückte eine gelassene Ruhe aus. Und dann diese wahnsinns Augen, graublau und unglaublich intensiv. Sie schienen direkt bis in Ingas Seele zu sehen, sie zu berühren. Whoa! Inga konnte einfach nicht fassen, was gerade passierte. Sie fühlte ihr Blut im ganzen Körper pulsieren, in den Ohren rauschen ...
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