„Inwiefern? Ich denke, du warst nie bei der Bundeswehr?“
„Stimmt, Bernd. Trotzdem hört man ja so einiges. Der gesamte Ablauf, sowie der Ton, erinnerten mich stark an das Militär. Nur höflicher. Das Ausbildungsprogramm hielt man sehr straff und Freizeit wurde uns kaum gewährt. Dafür bekamen wir aber sämtliche Informationen, Bücher und Unterlagen. Einerseits die, die für die Ausbildung erforderlich waren, andererseits alles, wonach wir fragten. Nachmittags und abends stand dann meistens Kampfsport auf dem Plan, was uns natürlich sehr entgegen kam. Besonders Chrissi“, merkte ich schmunzelnd an.
Ich musste an den ersten Tag des Seminars denken. Tags zuvor kamen wir nach einer längeren Bahnfahrt recht spät an, bezogen direkt unsere Stuben und nachdem alle Teilnehmer nach einem kurzen Abendessen noch eine gemeinsame Begrüßung über sich ergehen lassen mussten, freuten wir uns, in unsere Betten fallen zu können. Frauen und Männer natürlich getrennt.
Bei den Zimmern handelte es sich um Vierbettzimmer mit je zwei Etagenbetten. Ich bekam einen Platz am Fenster und zum Glück in der oberen Etage. An das Geschnarche der Kollegen gewöhnte ich mich allerdings erst nach einer Woche.
Der erste Tag verging mit organisatorischen Dingen und einer kurzen Einführung in allgemeine Rechte. Und am Nachmittag folgte direkt ein Kampftraining. Christine konnte den Beginn des Trainings kaum abwarten. Seitdem Monika und Sam ihr einige Krav Maga Techniken beigebracht hatten, war sie Feuer und Flamme für den Kampfsport.
Hier sollten wir zunächst eine Einführung in Taekwondo bekommen und später auch verschiedene Prüfungen absolvieren. Der Trainer war ein Bulle von Mann und nannte sich ‚Dozer‘. In Wirklichkeit hieß er aber Thomas Friedlich. Nomen est omen halt.
Wir bekamen die Kleidung gestellt. Weiße Judoanzüge. Meiner war ein wenig zu kurz, aber es musste reichen. Wir trainierten in einer kleinen Sporthalle, in der auf dem Boden Matten lagen.
Wie sich herausstellte, verfügte kaum einer der Teilnehmer über Erfahrungen im Kampfsport. Dozer erklärte uns die Grundregeln des Sports und zeigte auch bei den dümmsten Fragen eine erstaunliche Ruhe. Endlich befand sich die Gruppe in der Lage, dass wir uns zum Training - wie es bei diesen Sportarten ja so üblich ist - verbeugen konnten.
„Ich freue mich, sie ab heute in die Geheimnisse des Kampfsportes einführen zu können. Das Training wird, jedenfalls soweit es möglich ist, jeden Tag stattfinden.“
Schon ließ sich ein leises Stöhnen vernehmen. Und ein Kichern. Ich schaute mich um. Christine, natürlich. Das entging auch dem Trainer nicht.
„Ja, soweit möglich. Denn selbstsicheres Auftreten und körperliche Fitness sind das A und O des Personenschutzes. Ihre Auftraggeber müssen sich auf sie verlassen können. Schließlich vertrauen sie ihnen ihr Leben an.“
Jetzt entstand ein wenig Unruhe in der Gruppe und ein kleiner, magerer Mann konnte sich einer Frage nicht enthalten: „Aber wir haben dann doch Waffen. Wofür also diese Schinderei?“
Christine kicherte wieder.
Dozer sah erst Christine, dann den Frager böse an. „Egon Selbstki, richtig? Die Frage lässt sich ganz einfach beantworten: Es kann durchaus sein, dass sie einmal keine Waffe zur Hand haben. Oder ihre Pistole versagt. Ladehemmung oder so ... Dann müssen sie in der Lage sein, sich auch ohne Waffe zu verteidigen und die ihnen anvertraute Person zu schützen. Aber bei dieser Gelegenheit: Falls man es ihnen noch nicht mitgeteilt hat, so erfahren sie es jetzt und hier von mir. Dies ist kein ‚Bezahllehrgang‘ den sie so oder so mit einem Zertifikat verlassen. Sie werden Prüfungen absolvieren müssen und besonders hier im Kampfsport erwarte ich, dass sie mindestens die Prüfung zum sechsten Kup, dem grünen Gürtel schaffen. Das ist jedenfalls eine der Voraussetzungen um das Abschlussdiplom zu erhalten.“
Es wurde totenstill in dem Raum. Lediglich ein leises Kichern ließ sich vernehmen. Christine - natürlich.
Dozer sah sich lauernd um. „Ah, da scheint ja jemand das Ganze sehr, sehr lustig zu finden. Sie sind sehr albern, junge Dame. Treten sie doch bitte einmal vor!“
Christine trat aus der Reihe und stellte sich dem Trainer gegenüber. Das Kichern bekam sie mittlerweile unter Kontrolle - oder es war ihr vergangen.
„Sie sind Christine Weru“, stellte Dozer fest. „Nun, Christine, so lustig sie das auch finden mögen - in der Realität werden sie kaum etwas zu kichern haben. Da bekommen sie nicht einmal die Zeit, um darüber nachzudenken, ob sie kichern wollen. Und dann sind sie tot. Dumm gelaufen was?“
Dozer umkreiste Chrissi jetzt, so als wolle er sie von allen Seiten begutachten. Der Mann war gut anderthalb Köpfe größer als sie und bestimmt um die achtzig Kilo schwerer. Dann stand er wieder vor ihr.
„Ich las in ihrer Akte, dass sie schon über Kampfsporterfahrung verfügen. Allerdings haben sie noch keine Prüfungen absolviert und besitzen somit keinen Gürtel. Also wohl ein wenig Hobbykampf, was?“ Dozer lachte meckernd.
„Um ihnen allen ein Gefühl dafür zu geben, was mit Kampfsport möglich ist, erhalten sie zur Einstimmung nun eine kleine Demonstration. Aber zunächst einmal: Wir duzen uns hier alle und ich finde, dass wir es in diesem Kurs ebenso halten sollen. Für euch bin ich ‚Dozer‘, das reicht. So und nun zu unserer Demonstration. Wer wäre als Gegner besser geeignet, als unsere kampfsporterfahrene, kichernde kleine Christine hier? Bleibt nur die Frage, ob die ‚böse‘ Christine mich angreifen will, oder ob ich sie angreifen soll?“
Dozer sah Chrissi fragend an. Die blickte lächelnd zurück. „Du kannst mich ruhig angreifen. Wir lernen ja schließlich die Selbstverteidigung hier, oder?“
Dozer nickte. „Okay. Aber nicht meckern, wenn es heute die ersten blauen Flecken gibt.“ Dann verbeugten sich beide voreinander.
Christine stand abwartend da. Nach ihrer Verbeugung rührte sie sich nicht mehr und blickte dem Ausbilder gelassen entgegen. Dozer sah sie ein wenig verwirrt an. „Christine, keine Verteidigungshaltung? Du weißt doch, ich greife dich jetzt an.“
Christine schüttelte den Kopf. „Als Personenschützer weiß ich doch auch nicht, wann ein Angriff stattfindet. Wie sollte ich da in Verteidigungshaltung gehen?“ - „Aber du hast wirklich schon einmal Kampfsport betrieben?“
Chrissi nickte. „Ja, ein wenig. Moni und Sam haben mir ein paar Dinge gezeigt.“
Dozer sah Christine zweifelnd an. „Ich kenne ja Moni und Sam nicht und was ihr so ‚trainiert‘ habt, aber vielleicht sollte ich dich doch lieber ganz vorsichtig angreifen? Mit Samthandschuhen quasi?“ - „Nein, nein. Ist schon in Ordnung. Es wäre nur schön, wenn du endlich anfangen würdest. Wir wollen ja kämpfen und nicht nur quatschen, oder?“
Christine hatte kaum ausgesprochen, als Dozer losstürmte. Dabei täuschte er einen Handkantenschlag an und trat mit dem Bein nach. Aber da, wo die Frau eben noch stand, war niemand mehr und so ging der Tritt ins Leere. Dozer kam ein wenig ins Straucheln. Fast wäre er lang hingeschlagen.
Chrissi stand nun wiederum abwartend und ohne Regung da. Dozer sammelte sich und griff erneut an. Diesmal legte er mehr Energie in seinen Angriff. Man sah deutlich, dass er wieder mit dem Ausweichen seines Gegners rechnete. Aber Christine dachte diesmal nicht daran, sondern ließ sich mit dem Rücken auf die Matte fallen und benutzte die Beine und Dozers Schwung, um ihn über sich zu befördern. Schon stand sie wieder, während Dozer mit dem Gesicht unsanft auf der Matte aufschlug.
„Okay, so nicht“, zischte der und ging erneut zum Angriff über. Chrissi wehrte jetzt ruhig die Schläge und Tritte ab und Dozer kam einfach nicht an sie heran. Nach einer kurzen Weile wirbelte Christine plötzlich herum und setzte einen gezielten Tritt gegen Dozers Hals. Der Angriff fiel nicht allzu hart aus, schließlich wollte sie unseren Ausbilder nicht schon am ersten Tag verletzen. Trotzdem schlug der Trainer hart auf der Matte auf und einige Minuten war nur ein Keuchen und Schnaufen zu vernehmen. Dann rappelte er sich hoch, stellte sich vor Christine und verbeugte sich. Christine tat es ihm nach.
Читать дальше