Bald darauf geschah etwas. Nicht mit mir. Mit Shing. Mit einem Mal wirkte er traurig und niedergeschlagen. Apathisch. Selbst mit mir unterhielt er sich nicht mehr nach den Unterrichtseinheiten.
Irgendetwas Tragisches musste in seinem Leben vorgefallen sein. Hatte er womöglich ein geheimes Privatleben?
Manche hatten eines. Es galt als normal, ein gesellschaftliches Leben zu führen. Manchmal wussten die Ehepartner nicht einmal von der Tätigkeit für die Shan Quai. Manchmal wurden sie eingeweiht und mussten einen Eid auf den Codex ablegen. Verschwiegenheit oder Tod.
Doch viele lebten einfach innerhalb der Gemeinschaft und unterhielten Liebeleien. Oder sie vergnügten sich im roten Viertel mit den Geishas . Männlichen oder weiblichen - je nach dem. Erwachsenendinge halt.
Ich beschloss, dahinter zu kommen, was Shing betrübte. Er war mein Retter. Ich musste ihm helfen, so wie er mir geholfen hatte.
Ich hatte mich bereits auf dem Weg, der zum Außengelände führte, verborgen. Auf das Essen hatte ich daher verzichten müssen. Als mein Magen knurrte, bereute ich, dass ich nicht wenigstens etwas Brot stibitzt hatte, ehe ich mich hierher aufmachte.
Ich hatte Glück. Ich musste nicht allzu lange warten, bis mein Ausbilder vorbei lief. Als ich mich kurz darauf an Shings Fersen heften wollte, stand unvermittelt Chul vor mir - der Bastard. Wie aus dem Nichts tauchte er zwischen den hochaufragenden Stämmen des Bambuswaldes auf. Trotz seiner Gesichtsmaske und der Haube erkannte ich ihn sofort an seinem verächtlichen Tonfall, der allenfalls als Brechmittel gut war.
“Na, wen haben wir denn da?”
Seine wenig geistreiche Frage hätte er sich sparen können. Er wusste genau, wen er vor sich hatte.
“Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, du bist ein Trottel”, höhnte ich, da ich mir meine Angst nicht anmerken lassen wollte.
“Schleimerin”, antwortete er. “Hast wohl Angst, dass ich dir etwas antun könnte. Glaub ja nicht, dass mich dein Gewinsel davon abhält.”
Ich nahm meinen Mut zusammen. Was immer gleich passieren würde, ich wollte keine Schwäche zeigen.
“Oh, unser schwachsinnigster aller Quai-Lam hält es schon für Lob, wenn er einmal nicht als Trottel bezeichnet wird.” Ich versuchte das Zittern in meiner Stimme zu verbergen. Es gelang mir nicht ganz. “Versuch es mal mit Denken”, ätzte ich. “Auch wenns schwerfällt, Volltrottel.” “Jetzt triffst du mich aber hart, Kleines”, entgegnete er süffisant. “Von dir als dumm bezeichnet zu werden verletzt mich so ungemein.” Chul griff sich gespielt mit beiden Händen ans Herz.
Ohne Vorwarnung schoss seine Rechte vor. Er packte mich am Hals und drückte zu.
“Winsle, kleines. Winsel um dein Leben.”
Ich röchelte, als es mir allmählich die Luft abschnürte. Meine erlernten Befreiungstechniken versagten an seinem eisernen Griff.
Er drückte stärker zu. Setzte einen Wurf an. Ich hatte es nicht kommen sehen. Er war stärker. Schneller. Besser ausgebildet.
Ich lag hilflos wie ein Hundewelpen auf dem Rücken. Meine Sinne schwanden.
Als ich wieder erwachte, mochten nur wenige Augenblicke vergangen sein.
Chul hatte mich tiefer in den Bambuswald gezerrt. Nun hantierten seine Finger an der Verschnürung meines Kampfanzuges.
Ich roch seinen nach Pflaumenwein stinkenden Atem. Seine Finger glitten über meinen bloßen Bauch. Abwärts. Dahin, wo niemandes Finger etwas zu suchen hatten.
Tu was Mädchen. Lass deinem Gegner keinen Raum für seinen Angriff. Shings Stimme hallte durch meinen Kopf, als wäre er hier, um mir Unterricht zu erteilen. Ich rollte herum. Er versuchte, mich festzuhalten. Seine Hand glitt über meinen Hintern. Dann rutschte sie endlich ab. Ich kam auf die Füße. Er versuchte, mich wieder zu packen. Doch ich war schmaler und wendiger als er. Ich rannte zwischen dicht stehenden Bambusstämmen hindurch. Links und rechts huschten die senkrechten Schatten an mir vorbei, während ich zwischen den hohen Pflanzen hindurchrannte. Blätter peitschten mir ins Gesicht. Immer wieder wechselte ich die Richtung, wie ein hakenschlagender Hase. Ich hetzte so schnell, wie nie zuvor in meinem Leben. Ich wagte nicht, mich umzusehen und rannte, bis ich nicht mehr weiter konnte. Ich sah mich um. Auch als mein Atem sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, und mein Herz nicht mehr wie wild in meiner Brust pochte, war nichts von Chul zu sehen oder zu hören. Ich hatte ihn abgehängt.
Immer noch schweratmend lehnte ich mich gegen einen Bambusstamm.
Was sollte ich als nächstes tun? Sicher würde er am Eingang zur Höhle auf mich warten. Oder irgendwo oberhalb.
Andererseits verspürte ich keine Lust mehr auf einen Ausflug, um Shing zu folgen. Er war längst weg. Seine Fährte war kalt, wie ein totes Reh.
Enttäuscht ließ ich mich auf einem Fels nieder. Einem der vielen Findlinge, die zwischen den Stämmen des breiten Bambuswaldes verteilt lagen, der den Laufweg der Shan Quai vor neugierigen Blicken schützte.
Ich beschloss, zunächst abzuwarten und dann einen anderen Weg hinunter zu den Höhlen zu suchen — in der Hoffnung, dass Chul weiter oben vergeblich auf mich wartete.
Ich riss panisch die Augen auf, als sich mir eine Hand über Mund und Nase legte, und mich rückwärts vom Findling zog. Ich griff hinter mich. Erwischte den Stoff einer Shan Quai-Haube. Zog sie meinem Angreifer vom Kopf.
“Schht”, flüsterte eine Stimme hinter mir.
“Bitte sei still, damit ich dich loslassen kann”, zischte der Unbekannte. “Er ist in der Nähe und durchstreift den Wald auf der Suche nach dir. Ich kenne einen Weg, der uns hier wegbringt, ohne Aufsehen zu erregen.”
Ich nickte langsam. Die Hand hatte wenigstens meine Nase schnell wieder freigegeben, so dass ich Luft bekam.
Mein Angreifer gab mich frei.
Ich wirbelte herum. Vor mir im Dunkeln zog Shing kurz seine Quai-Ki , seine Maske herunter, damit ich ihn erkannte. Hatte er etwa bemerkt, dass ich ihm gefolgt war? War er so gut?
Wenig später saß ich zusammen mit meinem Meister auf einem anderen Findling. Weitab vom Weg und von Chul, der suchen sollte, bis er schwarz wurde.
Shing hatte Maske und Kopfhaube abgenommen. Ich ebenso.
“Du hast dich in Gefahr begeben, um mir zu folgen. Hätte ich es nicht bemerkt, wäre es unter Umständen übel für dich ausgegangen, kleine Quai-Lam.” Ich senkte den Kopf. “Verzeiht, Meister Shing.” Er lächelte traurig. Anscheinend hatte er den Übergriff Chuls nicht mitbekommen. Ich beschloss ihn nicht weiter zu beunruhigen, also behielt ich das Geschehnis für mich.
“Weshalb wolltest du mir nachschleichen?”
Ich beschloss, aufs Ganze zu gehen. “Ihr seid nur noch ein Schatten Eurer selbst, Meister - wenn Ihr den Ausdruck verzeiht.”
Er verdrehte die Augen angesichts des lauen Wortspiels.
“Ihr seid mit den Gedanken nicht hier. Jetzt gerade ja. Ausnahmsweise. Aber sonst nicht.”
Er sah mich an. Vorsichtig. Auf der Hut. Ich näherte mich dem Kern. Es musste sein. Auch wenn es wehtat.
“Ich kenne dieses Verhalten”, redete ich weiter. “Als meine Eltern gestorben waren. Als ich zwischen all diesen feindseligen fremden älteren Kindern nach Wärme suchte, habt Ihr mich immer wieder gerettet.”
Ich sah ihm in die Augen. Das tat ich immer, wenn es mir möglich war. Sie glichen kleinen Seen, in denen meine Seele vor Anker gehen konnte. Die einzigen Augen, die mir Trost gaben, seit meine Eltern zu Borin gegangen waren.
“Ich sehe in Euren Augen schon länger Kummer. Seit einem halben Ceonslauf.”
Shing zuckte vor mir zurück. Seine Augen geweitet. Sein Körper gespannt, wie der Bogen eines Scharfschützen.
Ich konnte nicht anders. Die Worte sprudelten aus mir heraus, ehe ich nachdachte.
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