Ich kann mich genau erinnern, wie ich den Wohnraum unseres großzügigen Anwesens, mitten in Sang Wan Yao, betrat. Jener Tag veränderte alles.
Alles begann freundlich und harmlos:
Ich war ganze elf Ceonsläufe alt. Das Frühjahr setzte ein, sodass ich ohne dicke Jacke und Handschuhe zum Spielen hinaus konnte.
Raureif zeigte sich nur noch in den Gärten, die das niedrig stehende feurige Auge Caliopés noch nicht erreichte.
In einem dieser Gärten der anderen Stadthälfte - in Dei Nawa, wo der Shogun herrschte, klaubte ich mit meiner Freundin Yanai alte Kastanien auf; zusammen mit anderen Dingen, die der Schnee wieder freigab.
Wir vernahmen panische Schreie. Rauch stieg über der Stadt auf.
Häuser brannten. Menschen riefen durcheinander.
Ein durchgegangenes Pferd galoppierte vorbei. Wir hörten die wilden Hufschläge über das steinerne Pflaster donnern.
Kurz darauf setzten bleiche Gestalten mit schwarzen Augen und widerwärtig gespaltenen Zungen über den niedrigen Zaun des Gartens.
Ich versteckte mich hinter dem kleinen Misthaufen, der in der hinteren Ecke des Gartens stand, wo ich ein paar welke Blätter vom vorigen Herbst entsorgte.
Als ich die Gestalten erblickte, duckte ich mich ängstlich hinter dem dampfenden Sichtschutz.
Sie nahmen Yanai mit sich. Ihr Vater stürzte aus dem Haus und verschwand ebenso.
Yanais Mutter überlebte als Einzige. Ich habe Ceonsläufe Später das Haus aufgesucht. Sie weiß, dass es mich gibt. Dass ich eine Shan Quai bin.
Seit ich sie hin und wieder besuche, ist ein wenig von der Traurigkeit gewichen, die ihr Gesicht beherrscht.
Doch damals verfiel ich in helle Panik. Es war, als hätten die Sholo’Sa-Kriege nie aufgehört. Als hätte Thororn, der Anführer der Seelenvampire, sich aus seinem dunklen Grab erhoben und wäre zurückgekehrt.
Auf dem Heimweg stolperte ich über eine Leiche, was mir blutige Handflächen bescherte. Der tote Mann lag mitten auf der Straße. Ich konnte meine Augen nicht von seinem Gesicht abwenden: Seine Haut war grau und brüchig. Risse durchzogen das Gesicht, als bestünde die Haut aus altem Reispapier.
Sein Hals war an der Seite aufgerissen. Blut rann daraus zu Boden. Das meiste war bereits angetrocknet.
Nie zuvor während der fünf Jahre der Sholo’Sa-Kriege hatte ich ein Opfer der Seelenvampire selbst erblickt. Die Wirklichkeit war grausamer, als jede der Schilderungen, die meine Eltern versucht hatten, von mir fernzuhalten.
Ich rannte über eine der hoch über dem Drachenfluss gespannten Hängebrücken, die Sang Wan Yao und Dei Nawa miteinander verbanden.
Einhundert Schritt tiefer trieben die Wassermassen dahin, nachdem sie den Virkahirfall herabgestürzt waren, genau an der Nordmauer der Stadt.
Gefrorener Nebel machte die Brücken glatt. Jeder unbedachte Tritt konnte den Tod bedeuten.
Doch ich rannte hinüber, ohne ein einziges Mal auszugleiten.
Ich erreichte sicher das Gebiet des Kaisers. Den Westen der Stadt - meine Heimat.
Völlig außer Atem bog ich in die Straße der Händler ein, in der unser Haus lag.
Weinend wollte ich meinen Eltern von dem verstörenden Erlebnis berichten. Mich auf dem Schoß meiner Mutter sitzend an ihrer Brust ausweinen. Die tröstende Stimme meines Vaters dazu vernehmen.
Stattdessen sah ich auf ihre Körper hinab; die Gesichter und das Haar grau, als hätte sie jemand geschminkt, wie zum jährlichen Ceonsfestspiel: Risse in der Haut. An den Seiten ihrer Hälse zeichneten sich dünne Spuren getrockneten Blutes ab, wie auf jenen der Schausteller, die bei den Festspielen die Opfer des Krieges darstellten. Opfer der Seelenvampire.
Ich wusste, was geschehen war: Die Sholo’Sa hatten den Dorn ihres Seelenstachels, der aus der linken Handfläche ragte, hineingebohrt. Ihnen zuerst das Leben und dann die Seele entrissen. Meine Eltern traten nicht vor Borin, den Urdrachen des Todes und des Lebens, den Herrn der Erde. Ihre Seelen waren fort - für immer. So sagten es die Priester der Sieben Urdrachen.
Nun - im Alter von elf Ceonsläufen - erfuhr ich auf bitterste Art und Weise, dass die Soldaten sich geirrt hatten. Nicht alle Sholo’Sa waren vernichtet worden.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich weinend und zitternd über den bleichen entstellten Körpern meiner Eltern gelegen hatte. Ich bemerkte nicht, wie Soldaten des Kaisers das Haus betraten. Ich weiß nur noch, dass mich jemand hoch hob. Ein Gesicht. Männlich. Schulterlange braune Haare unter dem Gardehelm. Ein junger Soldat.
“Das Mädchen lebt noch, Herr Hauptmann.”
“Bringt sie zum Waisenhaus”, befahl der Offizier des Soldatentrupps.
Der Mann, der mich im Arm hielt, nickte.
Ich begann zu weinen. Der Soldat verfiel in Laufschritt und trug mich durch das Gewirr der Straßen der geteilten Stadt.
Er brachte mich nicht zu den Waisen. Stattdessen suchte er ein altes Lagerhaus auf.
Er zog sich aus. Meine Mutter hatte mich vor bösen Männern gewarnt, die kleine Mädchen entführten und ihnen schlimme Dinge antaten. Ich sollte nie mit einem Fremden mitgehen. Doch welche Wahl war mir heute geblieben?
Er entledigte sich der Uniform.
Als er meine ängstlichen Blicke bemerkte, lächelte er.
“Du musst keine Angst haben”, raunte er mir zu und schlüpfte in einen schwarzgrauen unregelmäßig gemusterten Anzug. Perfekt, um mit den Häusern der Stadt zu verschmelzen.
“Mein Name ist Shing.” Zaghaft ergriff ich die Hand, die er mir hinstreckte.
Er lächelte traurig. “Auch wenn es zu spät für dich kommt: Wir haben die Sholo’Sa aus der Stadt vertrieben. Die Gefahr ist gebannt. Fürs Erste.”
Auch mir legte er eine Decke mit einem ähnlichen Muster über. Dann nahm er mich wieder in seine kräftigen Arme.
Ich hatte keine Angst. Irgendwie spürte ich, dass er mir nichts tun würde. Der Schrecken lag bereits hinter mir. Meine Mutter, meine geliebte Mutter. Jian würde mich nie wieder in ihren Armen halten. Ebenso wenig, wie Xoman, mein Vater. Wir waren eine wohlhabende Kaufmannsfamilie gewesen, die mit Porzellan und Seide handelte; dem Gold Sang Wan Yaos.
Jetzt gab es nur noch zwei bleiche tote Hüllen. Und mich.
Ab jetzt war ich weder arm noch reich. Ich war eine Quai-Lam . Eine Schülerin der Schatten. Anfangs verstand ich selbst nicht recht, was das sein sollte. Ich lernte zunächst, mich zu verstecken. In Räumen mit den Schatten zu verschmelzen; während unserer Ausflüge zum Übungsgelände außerhalb der Stadt, tarnten wir uns zwischen Bambusstangen, im Gras und zwischen Felsen. Wenn unsere Ausbilder uns allzu leicht entdeckten, ermahnten sie uns streng. Mehr als einmal bekam ich mit der Bambusrute eins auf die Finger, wenn meine Tarnung zu offensichtlich war. Sie waren unerbittlich.
Geborgenheit erfuhr ich nur, wenn ich mir die Decke in unserem Mehrbettraum über den Kopf zog — und zwar genau so lange, bis einer meiner Mitschüler sie mir entriss.
Einer von ihnen war dreizehn. Zwei Jahre älter, kräftig und bösartig. Er hieß Chul. Ein Junge mit igelkurzen borstigen schwarzen Haaren. Grinsend warf er meine Decke auf sein Bett und verschränkte die Arme vor der Brust.
Ich verbrachte meine Nächte zitternd ohne Decke. Bis eines Abends Shing nach mir sah.
Seitdem musste ich mir um meine Decke keine Sorgen mehr machen. Chul bekam Latrinendienst aufgebrummt. Einen Mond lang jeden Tag.
Der Vorfall stachelte Chul nur noch weiter an. Er fuhr fort, mir das Leben zur Hölle zu machen. Ich war verzweifelt. Was hatte ich ihm nur getan?
Wenige wochen Später passte er mich an der Essensausgabe ab. Er spuckte auf meinen gefüllten Teller.
“Na, wo ist jetzt dein großer Beschützer?” fragte er hämisch.
“Hinter dir”, antwortete ich, da ich mir nicht anmerken lassen wollte, wie eingeschüchtert ich war.
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