Er war der erste in seiner Klasse gewesen, der – von München aus nicht weit, aber damals noch unvorstellbar – eine Landesgrenze, nämlich die nach felix austria überqueren durfte, nur um an einen gewissen Wolfgangsee in einem merkwürdigen Hotel namens „Weißes Rössel“ einen schlecht schmeckenden Apfelkuchen mit schlecht schmeckender Sahne zu verzehren. Ein Tagesausflug. Seine Auslandserfahrung hatte ihn jedoch vor den Schulkameraden ungemein aufgewertet, und jetzt fuhren diese Eltern sogar nach Italien. An das oft in Sagen beschriebene, trotzdem nicht vorstellbare wilde Meer. Ein Land, wo die Zitronen blühen sollten. Das war doch Stoff, mit dem man angeben konnte.
Wermutstropfen, die Aufgabe jener Tante Ute. Er war schon fast vierzehn, konnte also sehr gut auf sich selbst aufpassen – zumal jene Anverwandte nur acht Sommer älter war als er.
Onkel Ottokar sah so aus, wie er hieß, nämlich wie ein reifer Kürbis mit Baskenmütze. Dieser gute Onkel hatte Tante Ute, als sie gerade siebzehn, aber schon ein Mistviech war, mit Zwillingen versorgt und danach auf massivem Druck der Familie ehrbar gemacht. Ehe. Onkel Ottokar besaß jedoch den Fleiß und Unternehmungsgeist einer Arbeitsameise, gepaart mit dem Mut und der Libido des Löwen. Onkel Ottokar baute folglich ein Floß, sammelte Tante Ute und die Zwillinge ein – sehr zur Freude einer Vielzahl von jungen geilen Kanadiern – und schiffte in deren reiches, gelobtes Land.
Onkel Ottokar schaffte, wovon Onkel Ottokar geträumt hatte, und konnte es sich bald leisten, Tante Ute auf Urlaub in das good old Germany loszulassen. Einmal, weil er seinen Reichtum der popeligen Verwandtschaft so richtig zeigen wollte, zum anderen, weil sich Onkel Ottokar sehnlichst wünschte, endlich mit dem indianischen Kindermädchen allein zu sein. Tante Ute, lockendes Bardot-Imitat, war nicht sehr traurig über diese Abwechslung.
Am Nachmittag, nach der Schule und einer ziemlich schlecht zubereiteten Mahlzeit durch Tante Ute – zu oft saure Schweinsnieren mit Salzkartoffeln – fuhr er mit Ingrid Rad. Sie war frisch und rein, trug weiße Hemdbluse und blauen Schulmädchenrock, ebenfalls weiße Kniestrümpfe und schwarze Lackhalbschuhe. In ihrer Gegenwart fühlte sich Hannemann selig sauber. Das Mädchen war jeden Tag sein Ziel, sein Glück in viel zu schnell verrinnenden Stunden. Allein ein Umstand machte ihm gedanklich zu schaffen, nämlich wie er seinen damaligen Wunschberuf als katholischer Missionar bei den unglaublich ungläubigen Wilden in Brasilien mit einer Heirat von Ingrid in weißem Tüll vereinbaren konnte. Ja, Ingrid im weißen Tüll würde besonders frisch und unschuldig sein.
Zur Missionarsberufung wurde er angeheizt vom Funkturm Gottes, seinem ellenlangen und klapperdürren Schulpfarrer. Der Priester leitete ebenfalls ein christliches Trainingszentrum, das Hannemann zweimal wöchentlich mit Eifer besuchte. Zwei Stunden heiliger Psychoterror für äußerst wichtige Erkenntnisse des katholischen Glaubens, aus Sicht des Funkturms wenigstens: stockkonservative Glaubenssätze, entsprungen einer stockkonservativen Kirche. Die Frage des von seinen feuchten Trieben beunruhigten Jungen nach dem Sinn der unkeuschen Gefühlswallungen beantwortete der Funkturm jedoch ziemlich modern: Gesundes Kacken habe auch etwas lustvoll Befreiendes, daher sei beides natürlich und von Gott gewollt.
Zölibat bleibt Zölibat, und dieser Irrsinn menschlichen Zusammenlebens bedrückte Hannemanns Gedanken. Er wollte Ingrid auf ewig, und ihre Ehe würde sich wohl ohnehin nur auf Radfahren und Reden, vielleicht noch auf gemeinsames Heidenbekehren am Amazonas beschränken. Das konnte vor des katholischen Gottes Augen doch nicht gar so verderbt sein.
Dass Ingrid evangelisch war, wusste er damals noch nicht.
Sieben Tage weilten die Eltern bereits in Italien, sieben Tage lebte Tante Ute mit ihm allein in seinem Zuhause. Der penible Haushalt dieser Mutter wurde zusehends schlampiger, obwohl sich Hannemann redlich bemühte, reinliche Ordnung zu halten. Die Atmosphäre in den Zimmern jedoch war anregend schwül. – Warum war damals kein katholischer Engel erschienen? Verdammt, wo versteckte sich ein Geflüügelter, der seine Keuschheit und die Missionarsstellung bei den unglaublich heidnischen Heiden noch hätte retten können?
Kein Schutzengel erschien, und Tante Ute lief mit Nichts unter ihrem lila Morgenmantel durch die Wohnung. Alles an ihr offen sichtlich für aufregend heiße Sekunden. Sie nannte ihn „My little poor boy", womit sie ihre kanadischen Sprachkenntnisse bewies, und berührte ihn ständig. Mal strich sie ihm leicht, wie unabsichtlich, mit den lackierten Fingernägeln über die Brust bis zum Bauch, dann stupste sie ihn im Vorbeigehen neckisch mit ihrem schwingenden Becken und gab ihm, unerhört, plötzlich einen kleinen, mit feuchter Zungenspitze-draußen-Kuss auf sein Ohrläppchen.
Außerdem trank sie Vaters wohl gehüteten Cognac und die sieben Flaschen Bier, welche er ihr täglich vom Wirt zu holen hatte. Dabei musste Hannemann an Ingrids Haus und Ingrids Fenster vorbeilaufen, traute sich, irgendwie schuldbewusst, aber nicht aufzuschauen, um möglicherweise den geliebten Schatten hinter ihren Gardinen zu erspähen. Hatte die Tante genügend Morgentrunk intus, rollte sie sich – angeblich um ihr schon aufgeschütteltes Bett zu schonen und ihn bei den Hausaufgaben zu überwachen – auf seiner Bettcouch zu einem Mittagsschläfchen zusammen. Alle Kanadier halten Siesta, so sagte sie. Der lila Morgenmantel blieb dabei nachlässig offen.
Drei Tage dauert es, bis Hannemann in völliger Verwirrung wagte, seinen Drehstuhl und seine Augen in ihre Richtung zu wenden. Sie schlief ahnungslos ihm zugewandt. Also durfte er endlich sehen, worüber seine Schulfreunde und er bereits so oft gegrübelt hatten: Weiber-Brüste besaßen keine schwarzen Balken wie die Fotos von seinem Vater in der Nachttischschublade, sondern Brustwarzen wie er auch. Allerdings rosa mit ziemlichen Nippeln, die steil nach oben standen und leicht zitterten. Und da war auch nicht das geheimnisvolle dunkle Loch in ihrem flachen Bauch, in das ein Mann sein Ding stecken konnte – wie ein falscher Freund behauptete –, sondern weiter unten in einer Art Dreieck nur ein Haufen gekrauster Locken. Sonst nichts. Aber eigenartig, diese Locken, die halb entblößte Haut der unschuldig schlafenden Frau weckten prompt ein Schwellen, ein drängendes Pochen in seiner Hose, ein irres Fühlen, für das er sich sogleich ordentlich katholisch schämte. Hannemann bekam rote Ohren, strebte hastig zur Toilette, wo er nicht mehr lange hantieren musste.
Tante Ute die Gute lächelte in ihren Nachmittagsträumen.
Hannemann erinnerte sich, er wollte weiterhin nur mit Ingrid in ihrer weißen Hemdbluse und dem blauen Schulmädchenrock durch den Innenhof radeln. Doch sie bemerkte schlichtweg nicht, wie er gerade derart süß gequält wurde, ließ ihn allein in seinem schwülen Sumpf. Seine einzige Liebe kämpfte nicht um ihn, trug also Mitschuld an dem unausweichlich Kommenden. Hätte er jedoch mit dem Funkturm Gottes über diese Versuchung gesprochen, wären Ohrenbeichte und ein unerwünschter Hausbesuch die kaum zu umgehenden Folgen gewesen. Und die nackten brasilianischen Indio-Heiden würden vermutlich in alle Ewigkeit nicht von der Notwendigkeit des Kreuzes und des Büstenhalters überzeugt werden.
Damit war es jener sechste Tag, Samstag, geworden. Tante Ute sprach am frühen Abend: „Darling, es ist Zeit für dein Bad. Ich habe dir bereits heißes Wasser einlaufen lassen. Spring in die Wanne, weiche dich ein. Ich komme dann und wasch dir den Rücken."
Was hätte Auflehnung bedeutet, wo er gar nicht aufbegehren wollte? Wohl nur den Tadel einfangen, er solle sich nicht so anstellen, schließlich hätte sie bereits mehr Kinder gewaschen. Und außerdem sehnte er sich ja danach, aufgeregt, zitternd, erregt. Hoffentlich gab es genügend Schaum, den er über seine bereits steife Latte anhäufen konnte.
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