Damals war Mukali noch nicht mein vorgesetzter Offizier und seine Wünsche waren noch keine Befehle für mich. Und auf die Verweigerung seines Befehls stand noch nicht die Todesstrafe.
Zwei Tage, nachdem Mukali seine Pferde gesattelt hatte, um dem Befehl des Khan zu folgen, machte ich mich auf den Weg nach Osten. Jesutai war überrascht, mich zu sehen. Er hatte seinen Vater überzeugen können, ihm mit dreizehn Jahren endlich eine eigene Jurte zu schenken, zumal ihm bereits eine Braut versprochen war.
»Wann wirst du sie holen?«, fragte ich ihn, als ich die Satteltaschen mit meinem Gepäck losschnallte.
»Nach der nächsten Schneeschmelze«, sagte Jesutai, der mir die Taschen abnahm.
»Warum nicht früher? Du bist schon dreizehn!« Ich legte die Steigbügel über den Sattel.
»Mein Vater will es so.«
»Tust du immer, was dein Vater sagt?«, provozierte ich ihn.
»Ja. Du nicht?«
»Nein. Nicht immer.« Ich löste den Sattelgurt und zog ihn aus der Schnalle.
»Das liegt wohl daran, dass Mukali nicht dein richtiger Vater ist.«
»Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich selbst entscheide, was ich tun will und was nicht.« Ich fasste den Sattel mit beiden Händen und wollte ihn von Gals Rücken heben, als Jesutai fragte:
»Wenn dein richtiger Vater dir etwas befiehlt oder verbietet, würdest du dich dann dran halten?«
»Ich kenne meinen Vater nicht. Ich beantworte dir die Frage erst, wenn ich weiß, wer mir befiehlt.« Erneut wandte ich mich meinem Pferd zu.
»Dann stimmen die Gerüchte über deinen Vater nicht?«
Ich drehte mich um und sah ihn an. Worauf wollte er hinaus? Was wusste er? Seit wann? » Welche Gerüchte?«
»Dass Dschamuga dein Vater ist.«
»Wo hast du das gehört?«
»Dschutschi hat es mir erzählt, als mein Vater und ich im Ordu des Khan waren.«
»Dschutschi?« Mein Hass auf den Sohn des Khan wuchs ins Unermessliche. Was würde er sich noch alles einfallen lassen? »Wem hat er es noch erzählt?«
»Allen. Seinen Brüdern. Seinen Freunden. Seinem Vater. Alle wissen es.«
Ich ließ den Sattel ins Gras sinken.
Und wenn es nun wirklich stimmte? Wenn ich nun wirklich Dschamugas Sohn war? Das war besser, als der Sohn von niemand zu sein. Eine lange verschüttete Frage wurde durch Jesutais Worte ausgegraben.
Wenn ich wirklich Dschamugas Sohn war, dann war meine Lebenserwartung im Lager des Khan und seines Noyan Mukali nicht allzu lang, wenn Dschamuga sich gegen Dschingis Khan erheben sollte. Wer würde etwas darauf geben, dass es nur ein Gerücht war? Wer würde sich die Mühe machen, dieses Gerücht nachzuprüfen? Bestenfalls nahm man mich als Geisel, um Dschamuga gefügig zu machen. Aber der hatte mich bisher nicht als seinen Sohn anerkannt. Schlimmstenfalls brachte man mich einfach um. Ich stellte mir vor, wie mein Stiefvater Mukali mit dem Schwert, das ich erst vor wenigen Tagen für ihn geschärft hatte, hinter mich trat und mir den Kopf abschlug, wie er es bei Satscha getan hatte. Ob er auch meinen Kopf in die Steppe warf, als Warnung für alle, die sich gegen den Khan erhoben?
Wenn ich wirklich Dschamugas Sohn war, was suchte ich dann im Lager der Dschurkin und der Kiyat? Ich musste meine Loyalitäten neu ordnen. Ich musste herausfinden, wessen Sohn ich wirklich war. Mit meiner Mutter konnte ich darüber nicht sprechen. Sie würde es mir nicht sagen. Meine Großmutter wusste es, aber sie hatte geschworen, es mich selbst herausfinden zu lassen, wenn die Zeit dafür gekommen war. Wenn meine Mutter mir keine Antwort auf diese Frage gab, dann hatte ich nur eine Wahl. Ich musste meinen Vater fragen. Oder den, den alle für meinen Vater hielten: Dschamuga.
»Und was soll ich in Dschamugas Ordu?«, fragte Jesutai, als ich ihm meinen Plan erläutert hatte. Und Gal wieder gesattelt hatte.
»Du besuchst deine Verwandten. Dschamugas Söhne sind deine Cousins. Und meine Brüder, wenn das Gerücht stimmt.«
»Du kannst nicht einfach in Dschamugas Jurte spazieren und ihn fragen, ob er dein Vater ist.«
»Warum nicht?«, fragte ich trotzig. »Wenn du einen anderen Vorschlag hast, sag ihn mir!«
»Wenn er wüsste, dass du sein Sohn bist, hätte er sich längst dazu bekannt. Dschamuga hat überall Kinder, in allen Ordus.«
»Dann weiß er eben nichts von mir. Na und?«
»Woher willst du plötzlich wissen, dass er dein Vater ist? Es ist doch nur ein Gerücht, das Dschutschi herumerzählt.« Jesutai verzweifelte an meiner Entschlossenheit, während ich vor lauter Ungeduld nun auch sein Pferd sattelte.
»Ich weiß es nicht, Jesutai. Aber ich will es wissen!«
»Wenn du dir etwas in den Kopf setzt, dann wird es zum Naturgesetz!«, beschwerte sich Jesutai.
»Du wirst dich noch wundern, Jesutai!«
Das sollte er wirklich. Aber nicht so, wie ich es in diesem Augenblick dachte.
Dschamugas Ordu befand sich zwei Tagesritte südöstlich von Todas Lager, gerade noch auf dem Gebiet des Mongol Ulus und so weit entfernt wie möglich vom Ordu des Khan. Jesutai hatte beschlossen, mich zu begleiten. Er wusste, dass er gegen mich keine Chance hatte, wenn er unsere Freundschaft nicht riskieren wollte.
Als wir im Ordu eintrafen, war Dschamuga mit seinen Männern zur Jagd geritten. Jesutai und ich besuchten zuerst die Jurte seiner Ersten Gemahlin. Dschamuga hatte drei Söhne, Turai, Aldschai und Togan, und eine Tochter namens Morghan. Mit meinen Brüdern verstand ich mich, als wären wir zusammen aufgewachsen.
Jesutai und ich halfen ihnen auf der Pferdeweide, Pferche zu bauen. »Wann kommt dein Vater zurück, Aldschai?«, fragte ich, während wir gemeinsam die Stangen in den Boden schlugen.
»In ein paar Tagen«, sagte Aldschai.
»Zieht er nicht mit dem Khan in den Krieg?«, fragte ich und bemühte mich um einen möglichst desinteressierten Tonfall.
»Ich weiß nicht. Ich glaube, er hat sich noch nicht entschieden«, sagte Aldschai. »Der Khan hatte vor einigen Tagen einen Pfeilboten gesandt, aber bisher hat mein Vater nicht reagiert. Dann ist er zur Jagd aufgebrochen.«
Wollte sich Dschamuga aus dem Krieg gegen die Kereit und die Naiman heraushalten? Mit welcher Absicht? Was war dran an Mukalis Befürchtungen, dass Dschamuga dem Khan in den Rücken fiel, sobald er von seinem Feldzug zurückkehrte?
»Warum willst du das wissen?« Aldschai befestigte die Stange.
Ich antwortete nicht. Was sollte ich ihm auch sagen? Dass ich seinen Vater für meinen Vater hielt? Dass ich sein Bruder war?
Jesutai kam zu uns herüber. »Turai, Togan und ich reiten auf die Murmeltierjagd. Kommt ihr mit?«
»Ja«, sagte Aldschai.
»Nein«, sagte ich. Ich musste nachdenken.
Jesutai drang nicht weiter in mich. Er kannte mich zu gut, um noch ein einziges Wort über meine Entscheidung zu verlieren.
»Tenger, himmlischer Vater«, begann ich mein lautloses Gespräch, »warum machst du es mir so schwer?«
Keine Antwort. Kein Blitz. Kein Donner. Nicht einmal eine Wolke. Hatte er mich nicht gehört? Über mir wölbte sich ein Himmel aus kobaltblauem chinesischem Porzellan. Ich schloss die Augen und setzte meine Unterhaltung mit Gott fort. »Seit ich denken kann, bin ich auf der Suche nach meinem Vater.«
Seltsamerweise glaubte ich, dass Tenger das wusste. Aber statt einer Antwort entstand in meinem Geist ein Wort. Ein Wort nur: Wozu ?
Wenn die Frage Warum gelautet hätte, hätte ich Tenger eine Antwort geben können, die mit einer Begründung begann. Weil ich jemanden suchte, dem ich mich anvertrauen konnte. Weil ich jemanden brauchte, der mich dazu brachte, das zu tun, was in mir steckte. Weil ich einen Vater haben wollte, wie jeder andere Mensch auch. Weil ... hundert Gründe.
Aber Wozu ? Das stellte die Suche an sich in Frage. Und das Ziel.
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