Ich nickte. Was sollte ich sagen, da er doch offensichtlich seinen Entschluss schon getroffen hatte? Oder hatte jemand anders ihm diese Entscheidung abgenommen? Ich wusste, dass der Khan ein Bündnis mit dem Kereit Khan Togrul anstrebte. Familienbande wären stärker als jedes mündlich gegebene Versprechen, auch wenn Togrul Khan ein Anda seines Vaters gewesen war.
»Wenn du in diesem Vogelgewand herumläufst, wirst du jedes Mädchen erschrecken, Temur. Ich wünsche nicht, dass du deine Himmelsreisen fortsetzt. Du bist nicht zum Schamanen geboren.«
»Nicht geboren, Mukali, aber berufen. Ich habe meinen ersten Tschanar absolviert«, wandte ich ein und wollte mit dieser Offenbarung meines Geheimnisses die Diskussion abbrechen.
Mukali zeigte sich unbeeindruckt. »Ich habe bei meinem letzten Besuch im Ordu des Khan mit Kökschu gesprochen. Er gesteht dir ein gewisses Talent zu. Er nannte es Intuition. Er hat dir ein paar Fertigkeiten beigebracht. Aber er hat mir gesagt, dass du die nächste Tschanar-Weihe nicht bestehen wirst.«
»Wenn Ihr mir den Krieg erklärt, Kökschu, dann tut es gefälligst persönlich! Und hetzt nicht meinen Stiefvater Mukali gegen mich auf!« Meine Worte waren nicht als Friedensangebot gedacht.
Vier Tage nach dem Frühlingsfest waren Mukali und ich mit zwei Packpferden ins Ordu des Khan aufgebrochen. Ich hatte keine Ahnung, was Mukali mit dem Khan zu besprechen hatte, und nutzte die Zeit für einen Besuch bei Kökschu.
»Du bist eine Steppenmaus, die brüllt wie ein Schneeleopard!« Kökschu lächelte nicht. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mich mit einem Schüler wie dir herumärgere?«
»Wie konntet Ihr behaupten, dass ich den zweiten Tschanar nicht bestehen werde? Ich habe es ja noch nicht einmal versucht!« Ich war wie ein Felsen, der bergab rollt. Kökschu war mir im Weg.
»Dann erspare uns beiden dein Versagen«, fauchte er. »Du hast nicht genug Kraft ...«
Schamanisches Wissen kann gelehrt werden, Weisheit nicht. Sie muss erfahren werden. Genauso wie der Glaube an Gott, der nicht verordnet werden kann wie eine Medizin, die den Menschen heil macht. »Während der ersten Weihe habt Ihr mir die Gabe zugestanden, das Feuerpferd in mir zu zähmen . Ihr habt selbst gesehen, wie ich Kranke geheilt habe! Ihr wisst, über welche Kräfte ich verfüge!«
»Ich habe mich geirrt«, sagte Kökschu. Er musste sich mühsam beherrschen, um mich unter seinen Willen zu zwingen.
» Geirrt ?«, fragte ich in einem Tonfall, der so scharf war wie mein Dolch. »Ich dachte, Ihr seid unfehlbar, Schamane des Khan?«
»Willst du mir den Krieg erklären?«, fragte Kökschu ungläubig. »Die Steppenmaus greift den Leoparden an! Das kann unterhaltsam werden. Wenn auch nicht für dich, Temur!«
»Ich habe dich erwartet, Mukali«, sagte Dschingis Khan, als Mukali das Zelt betrat. Mein Stiefvater schleppte mich hinter sich her wie ein Fohlen am Halfter. Der Pfeilbote des Khan hatte Mukali und mich abgefangen, als wir uns auf den Weg nach Westen gemacht hatten, um eine Braut für mich zu suchen.
»Die Naiman haben Togrul Khan angegriffen und vernichtend geschlagen«, sagte der Khan und ging zu einer Karte aus gegerbtem Leder, die am Scherengitter befestigt war. Bogurtschi, Dschelme und Subotai waren im Zelt versammelt und tranken Buttertee. »Das war hier irgendwo, haben meine Pfeilboten berichtet.« Der Khan deutete auf einen Punkt auf der Karte, eine weite Ebene, die mit Hanyu-Schriftzeichen bemalt war. Keiner von uns konnte die Schrift lesen. »Bisher sorgten die Naiman für eine Ausgewogenheit der Kräfte in der Steppe. Sie griffen immer den Stamm an, der sich über die anderen zu erheben drohte. Wenn die Merkit oder die Kereit oder die Tatar zu mächtig wurden, setzten die Naiman sie in der Vergangenheit auf die ihnen zustehenden Plätze«, erklärte der Khan. »Wir Mongol sind davon in der Vergangenheit verschont worden. Wir waren zu schwach, um von ihnen wahrgenommen zu werden.«
»Unter Kabul Khan und deinem Großonkel Kutula Khan waren wir nicht schwach!«, begehrte Dschelme auf.
»Jetzt fang nicht wieder damit an, Dschelme! Diese Diskussion hatten wir gestern schon«, fuhr ihm Subotai durch die Worte. »Wir sind hier zusammengekommen, um zu beschließen, wie wir mit der neuen Situation umgehen.«
»Welche neue Situation?«, fragte Mukali. Ich gab keinen Laut von mir, um nicht des Zeltes verwiesen zu werden.
»Unser Sieg über die Tatar hat die Naiman misstrauisch gemacht«, begann der Khan. »Meine Pfeilboten berichteten mir seit Monden, dass die Naiman ihre Pferde zusammengetrieben haben. Das war Togrul Khan offensichtlich entgangen. Buyuruk, der Khan der Naiman, fiel mit seinem Heer im Land der Kereit ein und überraschte den ahnungslosen Togrul. Er hätte sich nicht über meine Pfeilboten lustig machen sollen! Der alte Falke war der Meinung, dass Nachrichten sich wie ein Steppenbrand ausbreiten. Buyuruk Khan überfiel die kereitischen Ordus so schnell, dass Togrul ihnen nicht zu Hilfe kommen konnte. Buyuruk Khan hat Togruls Bruder zum Khan der Kereit eingesetzt. Als Vasall.«
»Verdammt!«, fluchte Mukali.
»Das war auch meine erste Reaktion«, sagte der Khan. »Togruls Bruder wird sterben, sobald er auch nur an Widerstand denkt .«
»Was ist mit Togrul Khan?«
»Er ist mit einer Handvoll Gefolgsleuten geflohen. Er hat sich irgendwo im Sand der Gobi vergraben.«
Mukali trat nahe an die Karte und starrte auf die bunten Linien und fremden Schriftzeichen. »Wir stehen nackt vor den Naiman.« Er deutete auf das Gebiet der Kereit, das westlich der mongolischen Weidegebiete lag. »Wir haben Buyuruk Khan nichts entgegenzusetzen. Das Heer der Kereit existiert nicht mehr , um die Naiman aufzuhalten. Und unseres existiert noch nicht .«
»Mukali, du hast eine wundervoll schonungslose Art, mich mit vertrauten Tatsachen zu konfrontieren. Du bist ein talentierter Feldherr, aber die Sprache der Diplomatie musst du noch lernen!«, sagte der Khan. Seine blauen Augen hatten die Farbe eines Gewittersturmes angenommen.
»Wenn ich irgendwann so verzweifelt sein sollte, mit dir in der Sprache der Diplomatie zu sprechen, Temudschin, bin ich nicht mehr dein Freund und du kannst mich hinrichten lassen.«
Bevor der Khan antworten konnte, stürzte ein Bote ins Zelt und fiel vor Dschingis Khan auf die Knie. Der Bote atmete keuchend, als habe er sein Pferd seit Stunden angetrieben.
»Woher kommst du?«, fragte Dschingis Khan, der sich erhoben hatte.
»Von Westen, mein Khan. Ich bringe Nachricht von Togrul Khan. Er ist nach Kara Khitai, das Reich im Westen, geflohen.«
Mit einer Handbewegung entließ der Khan den Pfeilboten. Dann schenkte er sich eine Schale Arkhi ein, opferte mit dem Ringfinger einige Tropfen den Geistern und sprach ein Gebet zu Tenger, dass der Anda seines Vaters und einstiger Verbündeter vom Tode verschont worden war. Dann stellte er die Schale weg und sagte zu seinen Noyans: »Und nun lasst uns unsere Verteidigung gegen die Naiman planen.«
»Der Krieg ist unvermeidlich, Temudschin. Wir dürfen uns nichts vormachen«, sagte Bogurtschi beim Abendessen der Noyans im Zelt des Khan.
Mukali hatte mich mit zum Essen genommen, weil er befürchtete, ich würde mich erneut mit Kökschu streiten. Am Tag zuvor hatten wir zum ersten Mal unsere Kräfte gemessen. Ich war nicht überrascht, dass er unseren stillen Kampf gewonnen hatte, aber er war überrascht, wie stark ich war. Der Krieg zwischen ihm und mir war unvermeidlich!
Die Worte des Khan rissen mich zurück in die Gegenwart:
»Bisher hat Buyuruk Khan sein Heer noch nicht nach Osten geschickt. Seine Pferde haben keinen Huf auf das Gebiet des Mongol Ulus gesetzt.«
»Willst du darauf warten, dass er das tut?«, fragte Mukali.
Der Khan lehnte sich in die Kissen zurück und trank einen Schluck Arkhi. »Natürlich nicht, Mukali. Ich werde jedem seiner Angriffe zuvorkommen. Wenn du mir sagst, womit ich das tun soll.«
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